Manche Familien können sich keine privaten Geburtstagsfeiern leisten, zu denen Freund*innen aus der Kita oder Schule eingeladen werden. Wie wäre es, wenn die Einrichtung eine kleine Geburtstagsfeier für jedes Kind organisiert? | Foto: Dcamilo-jimenez/unsplash

Politik und Praxis

Kindern Teilhabe ermöglichen

Armutssensibles Handeln ist in der pädagogischen Arbeit wichtig, damit Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien nicht ausgegrenzt werden, sondern mitmachen können. Daher ist es unerlässlich, das Thema Armutssensibilität in der Konzeption und im Leitbild der eigenen Einrichtung zu verankern und in der täglichen Praxis zu leben.

Nach genau drei Wochen ist es Sandra (Name geändert) gelungen, 17 Euro für die Kita-Gruppenkasse Ihres Kindes zu bezahlen. Drei Wochen voller schlafloser Nächte und Ausreden für die Erzieher*innen, warum sie schon wieder das Geld nicht dabeihat. „Es klingt komisch, aber ein Glück war mein Sohn eine Woche lang krank, so hatte ich eine Pause von den Ausreden“, sagt die 32-jährige Berlinerin. Die Alleinerziehende ist eine sogenannte Aufstockerin. Zu ihrem Lohn als Verkäuferin bekommt sie zusätzlich Bürgergeld für ihre zwei Kinder und sich. Eigentlich hätte Sandra einen Teil des Beitrages für die Gruppenkasse, das unter anderem für Ausflüge bestimmt war, auch über das Bildungs- und Teilhabepaket übernehmen lassen können. Über das Bildungs- und Teilhabepaket können Familien, die Bürgergeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag, Wohngeld oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, auf Antrag zum Beispiel bei eintägigen Ausflügen und Projekten, beim Kita- und Schulmittagessen, bei mehrtägigen Fahrten in Kita oder Schule oder bei der Ausstattung mit Schulbedarf, unterstützt werden. Sandra nutzt das aber nicht, denn das Beantragen ist sehr aufwendig und sie müsste dafür einen Nachweis über den Bürgergeldbezug bei der Kitaleitung hinterlegen. „Alle anderen Eltern konnten sofort beim Elternabend bezahlen, nur ich nicht. In der Kita meines Sohnes sind mehrheitlich Familien, die keine finanziellen Sorgen haben. Ich glaube, die Erzieher*innen fragen sich gar nicht, ob es auch Familien gibt, die den Beitrag zur Gruppenkasse nicht bezahlen können. Familien wie meine, sind nicht im Blick und mir ist es unangenehm uns als bedürftig zu outen“, so Sandra weiter. Nach drei Wochen hatte Sandra die 17 Euro dann aus eigener Tasche zusammengespart; 17 Euro, die an anderer Stelle fehlen.

Was können Einrichtungen und Fachkräfte tun?

Zu einem armutssensiblen Handeln gehört zunächst, dass in der Einrichtung überhaupt ein Bewusstsein für Armut geschaffen wird, das im Handeln und in der Planung armutsbetroffene Familien berücksichtigt. Wenn zum Beispiel Geld für Ausflüge oder Anschaffungen gesammelt wird, ist es hilfreich an die Familien zu denken, die nicht einfach so etwas dazuzahlen können. Grundlage hierfür ist, eine offene und wertschätzende Haltung gegenüber Menschen mit anderer sozialer Herkunft oder sozioökonomischer Lebensweise und die Reflexion der Armutssituation in der eigenen Einrichtung. Auch die eigene Haltung und Einstellung gegenüber armutsbetroffenen Familien zu reflektieren ist entscheidend. 

Der Berliner Kinderschutzbund hat 2021 sein Team in dem Bereich geschult. Drei Tage lang besuchten pädagogische Fachkräfte des Landesverbandes eine Fortbildung zur „Klassismussensibiltät in der pädagogischen Arbeit“. Christian Neumann, Geschäftsführer vom Landesverband Berlin sagt: „Je mehr Leute im Team ein Bewusstsein für Armuts- und Klassismussensibilität entwickeln, desto besser. Es schafft eine Kultur der Offenheit und Wertschätzung für armutsbetroffene Familien und macht jedem*r im Team bewusst, welche Vorurteile und Haltungen man selbst in sich trägt. Die Fortbildung hat uns geholfen zu analysieren, wie wir zukünftig sensibler und besser in der Arbeit mit Kindern und ihren Eltern vorgehen können.“

Im pädagogischen Alltag hat der Kinderschutzbund Berlin mit Kindern und Familien aus sehr unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen zu tun. Im Stadtteil Wedding besuchen sowohl Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien die Kinderprojekte des Landesverbandes als auch Kinder aus Akademikerfamilien mit besserem Einkommen. Das macht es nicht immer leicht, geeignete Lösungen für alle Lebenssituationen der Familien zu finden, wie beispielsweise bei den Kinderreisen des Landesverbandes.

Alle Kinder sollen verreisen können

„Mit der veränderten Sozialstruktur in unserem Kiez, mussten wir die Finanzierung der Kinderreisen anpassen, zumal die Preissteigerungen im Zuge der Inflation die Kosten der Reisen in die Höhe trieben. Bisher finanzierten wir die Reisen komplett aus Spenden. Davon profitierten sowohl Kinder aus finanzstarken Haushalten als auch Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien“, sagt Christian Neumann. 

Mittlerweile wird bei der Finanzierung der Kinderreisen des Berliner Kinderschutzbundes eine neue Kostenbeteiligungsstrategie angewendet. Je nach finanziellen Möglichkeiten, zahlen die Eltern den kompletten Beitrag, einen geringeren Beitrag oder sie lassen die Reise über das für sie zuständige Amt finanzieren, wenn die Familie Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket hat. Letztere werden bei der Antragsstellung vom Team umfangreich unterstützt und über ihr Recht das Bildungspaket zu nutzen niedrigschwellig informiert.

„Obwohl wir das Bildungs- und Teilhabepaket kritisch sehen, da es für viele Menschen mit bürokratischen Hürden und Hemmschwellen verbunden ist, bestärken wir zurzeit Familien darin, dieses Recht wahrzunehmen. Es ist mit Mehraufwand für unsere Kolleg*innen verbunden, weil einige Eltern Hilfe bei der Antragsstellung brauchen, aber wir sehen darin auch empowernde Schritte das eigene Recht wahrzunehmen und einen wichtigen Schritt in Richtung eines offenen und wertfreien Umgangs mit Leistungsansprüchen“, sagt Christian Neumann. „Zusätzlich schafft das Verfahren auch Raum für Eltern, die keine Leistungsansprüche haben, aber dennoch die kompletten Reisekosten nur schwer stemmen können“, so Neumann weiter.

Informationsmaterialien zum Kostenbeteiligungsverfahren und zum Bildungs- und Teilhabepaket wurden für Familien in leichter Sprache und in verschiedenen Sprachen für mehrsprachige Familien erstellt. Ganz wichtig bleibt der Aspekt, dass kein Kind von der Reise ausgeschlossen wird. Sollte es Eltern aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich sein, die Reise zu bezahlen, greifen weiterhin die dafür vorgesehenen Spenden.

Das neue Verfahren wird von den Familien positiv angenommen. Eltern sprechen das zuständige Team auf ihre individuellen Lebenssituationen an. „Wir haben den Eindruck, dass mit dem offenen Umgang für die verschiedenen finanziellen Möglichkeiten der Familien, Eltern weniger Hemmschwellen haben, uns auf ihre Situation anzusprechen“, so Christian Neumann.

Kinderarmut bzw. die Bekämpfung von Kinderarmut ist ein zentrales Thema des Kinderschutzbundes, daher sollten alle Einrichtungen des Verbandes mit gutem Beispiel voran gehen und ein armutssensibles Handeln verpflichtend in der täglichen Praxis etablieren. Armutssensibilität hilft, die schwierigen ökonomischen Lebenslagen von armutsbetroffenen Kindern besser zu verstehen und auf die daraus resultierenden sozialen Konsequenzen sorgsam und angemessen zu reagieren – im Sinne der Kinder und für mehr Teilhabe.  

Wie können Einrichtungen armuts­sensibel handeln?

  • Armutssensibles Handeln in der Konzeption und  im Leitbild verankern
  • Eine Schulung zur Armutssensibilität besuchen (neue Perspektiven für das Team, Blick öffnen für verschiedene Lebenswirklichkeiten von Familien, eigene Haltung reflektieren)
  • Reflexion im Team über Armutslagen in der Einrichtung und diese bei Planungen berücksichtigen 
  • Analysieren, ob mit bisherigem Vorgehen Kinder und Familien benachteiligt oder ausgeschlossen werden 
  • Barrieren für Familien abbauen: Gibt es Ansprechpartner*innen im Team für Familien, die Unterstützung brauchen? Sind Informationen verständlich? 
  • Vernetzen mit anderen Institutionen, die z.B. Sozialberatung anbieten, Übersetzungshilfe oder Antragshilfe leisten
  • Familien empowern, ihre Rechte wahrzunehmen  
  • Jegliche Kostenbeteiligungen sensibel angehen und Beteiligungsoptionen anbieten
  • respektvolle und wertschätzende Haltung und Vertrauen aufbauen, Perspektiven aufzeigen und nicht die eigenen Ideen und Vorschläge aufdrängen

 


Ausgabe 23-4

Schwerpunkt

Trennung und Scheidung

Politik und Praxis

Kinder- und Jugendpolitik

Kinderschutz vor Ort

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