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Schwerpunkt

Verletzt durch Worte

Behandeln wir Kinder so respektvoll, wie wir es uns selbst wünschen? Vielen Erwachsenen ist nicht bewusst, dass oft ein Unterschied gemacht wird. Verletzungen der Psyche tun weh. Sie hinterlassen Spuren, oft ein Leben lang.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Zahnarztstuhl, der Zahnarzt setzt den Bohrer an, es schmerzt, Sie zucken zusammen und der Zahnarzt herrscht Sie an: „Nun stellen Sie sich mal nicht so an!“

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Ihren Freund*innen im Pariser Louvre, betrachten die Mona Lisa, sind ganz in den Anblick versunken und auf einmal herrscht eine*r Ihrer Begleiter*innen Sie an: „Nun komm endlich! Wenn Du jetzt nicht kommst, gehen wir ohne Dich!“

Stellen Sie sich vor, Sie essen im Pausenraum eine Kleinigkeit, die Oliven schmecken Ihnen heute nicht, Sie sortieren sie deshalb aus und plötzlich steht Ihre Chefin vor Ihnen und verlangt: „Bitte aufessen, sonst hat das Konsequenzen!“

Die oben beschriebenen Situationen würden wir Erwachsenen niemals akzeptieren. Wir würden uns beschweren, den Zahnarzt wechseln. Wir wären tief verletzt über das Verhalten der Freund*innen im Louvre. Und wir wären verunsichert von der Reaktion der Chefin. Selbstverständlich. Leider ist es ebenso selbstverständlich, dass Kinder solche Situationen jeden Tag erleben. 

Worte haben eine starke Wirkung – auf Erwachsene ebenso wie auf Kinder. Kinder sind ganz genauso verunsichert, getroffen und gekränkt, wenn jemand ihnen gegenüber ausfallend wird. Solche Erlebnisse schmerzen und bleiben hängen. Vor allem, wenn Kinder von ihren Eltern, den Menschen, die sie am meisten lieben, verbal verletzt werden. Auch wenn Kinder nicht selbst Opfer von Angriffen mit Worten sind, sondern Ohrenzeugen von Konflikten der Eltern werden, leiden sie sehr. Sie geraten dabei in heftige Loyalitätskonflikte.

Niklas (Name von der Redaktion geändert) ist 10 Jahre alt. Niklas fühlt sich schlecht. Er spürt am ganzen Körper, dass er unter hohem Druck steht. Niklas Mutter und Vater streiten sich täglich und brüllen sich an. Das ist auch nicht besser geworden, seit sie sich getrennt haben. Der Vater zieht Niklas gegenüber über die Mutter her, die Mutter lässt kein gutes Haar am Vater. Niklas fühlt sich zerrissen, zwischen den Stühlen. Denn er liebt seine Eltern nach wie vor, alle beide. Niklas fühlt sich allein gelassen. Auch in der Schule gibt es Ärger. Niklas prügelt sich mit anderen Kindern. Auf den Unterricht kann er sich kaum konzentrieren. Seine Hausaufgaben schafft Niklas meistens nicht. Und von den Lehrer*innen und Erzieher*innen bekommt er zusätzlich viele Strafen. Einmal wurde er sogar nach Hause geschickt. All das erzählt Niklas bei der Beratung im Kinderschutz-Zentrum. Bei seinem ersten Besuch ist ihm mulmig zumute. Aber Niklas ist froh, dass er dort auf offene Ohren stößt. Niklas leidet heftig unter den Streitigkeiten. Dass er die Kämpfe seiner Eltern jeden Tag miterleben muss, ist eine Form von psychischer Gewalt.

Recht auf gewaltfreies Aufwachsen

Kinder haben ein Recht darauf, gewaltfrei aufzuwachsen. Das ist unmissverständlich in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben und im Bürgerlichen Gesetzbuch seit Jahresbeginn so formuliert: „Das Kind hat ein Recht auf Pflege und Erziehung unter Ausschluss von Gewalt, körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen.“ Gewaltfrei bedeutet also nicht nur, dass ein Kind nicht geschlagen werden darf. Worte sind bei der Erziehung ebenso wohlüberlegt einzusetzen. Und dazu kommt: „Psychische Gewalt ist bei allen anderen Misshandlungsformen immer mit dabei.“, sagt Lidija Baumann, Psychologin und Leiterin des Kinderschutz-Zentrums in Kiel. Auch wenn Verletzungen der Psyche auf den ersten Blick weniger sichtbar sind als körperliche oder sexualisierte Gewalt, können sie ebenso schwerwiegende Folgen haben wie körperliche Gewalt. 

Formen von psychischer Gewalt

Demütigen, Anschreien, Erpressen, Ignorieren: Es gibt viele Worte für das, was wir unter psychischer Gewalt verstehen. Sie liegt vor, wenn altersentsprechende Bedürfnisse und Wünsche von Kindern durch ihre Eltern grundsätzlich nicht beachtet werden. Aussagen wie „Das habe ich Dir doch schon dreimal gesagt.“, „Wenn Du nicht sofort aufhörst, gehst du heute ohne Essen ins Bett.“ oder „Du machst alles falsch.“ zählen dazu. Zu schweigen, mit dem Kind dauerhaft nicht zu reden oder es nicht anzuschauen, verletzt die Seele eines Kindes. Auch „der massive Streit zwischen Eltern nach einer Trennung und damit einhergehende starke Loyalitätskonflikte können eine Form von psychischer Gewalt sein“, berichtet Jana Rump, Psychologin und Leiterin des Kinderschutz-Zentrums in Bremen. 

Kinder brauchen für ein gesundes Aufwachsen die Sicherheit und Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Zum Beispiel dann, wenn sie von einem Streit in der Schule erzählen. Werden Kinder mit Problemen, die sie nicht selbst bewältigen können, allein gelassen oder die Eltern vermitteln ihnen, dass sie selbst schuld an diesen Problemen sind, ist das sehr schädlich. Ein Kind fühlt sich dann verlassen und in großer Not. „Kindern, denen ein Schutzraum zuhause fehlt, tragen zum Beispiel von Gewalt unter Kindern sehr hohe Schäden davon.“, bemerkt Lidija Baumann. Das trifft sie stärker als Kinder, die zuhause gut aufgefangen werden. 

Wenn Kinder ihre Freund*innen nicht treffen dürfen, sondern zuhause isoliert werden, hinterlässt das ebenfalls Spuren, genauso wie Kindern zu drohen, sie allein zu lassen oder zu schlagen. „Auch ein extremer Leistungsdruck kann als eine Form der psychischen Gewalt gesehen werden“, sagt Jana Rump.

Oft fehlt eine unterstützende Haltung

Betroffene Kinder und Jugendliche wenden sich oft an den Kinderschutzbund. Sie kommen hauptsächlich über Fachkräfte in Beratungsstellen, zum Beispiel über Schulsozialarbeiter*innen, Lehrer*innen oder sozialpädagogische Familienhelfer*innen. Jüngere Kinder fallen bereits in der Kita durch ihr Verhalten auf. Fachkräfte aus Krippen und Kitas schicken die betroffenen Familien dann oft zu einer Beratung. In vielen Fällen hilft das Jugendamt. Kinder und Jugendliche wenden sich häufig an eine nahestehende Person, mit der sie viel Zeit verbringen, wenn sie Hilfe suchen. Sie entscheiden intuitiv, wem sie sich anvertrauen können, wer ein offenes Ohr für sie hat. „Oft finden Kinder zu wenig Gehör“, sagt Lidija Baumann: „Wenn man Kinder fragt, wem sie schon darüber berichtet haben, was ihnen passiert ist, stellt sich oft heraus, dass es viele Menschen waren.“ Hier gilt es, sensibler für psychische Gewalt zu werden. „Kinder, die psychische Gewalt erfahren haben, sind einfach belastet und suchen in ihrem Umfeld nach Menschen, die sie sehen, die sie wahrnehmen, die sie richtig übersetzen“, stellt Lidija Baumann fest. In den Gesprächen bietet die Beratungsstelle einen Schutzraum für die Kinder, einen sicheren Ort. Kinder sind sehr offen dafür, Hilfe anzunehmen. Das fasziniert Lidija Baumann auch nach 23 Jahren im Kinderschutz-Zentrum Kiel immer wieder: Wenn man Kindern Unterstützung anbietet, „sind ihre Selbstheilungskräfte enorm“.

Auswirkungen und Ursachen von psychischer Gewalt

Kinder, die psychische Gewalt erfahren haben, zeigen das häufig in ihrem Verhalten. Jüngere Kinder im Kita-Alter schubsen, beißen und sind oft wütend oder aggressiv. Schulkinder fühlen sich gestresst, sie können kaum konzentriert lernen, was sich oft in schlechten Leistungen niederschlägt. Jugendliche scheitern in vielen Fällen beim Erwachsenwerden. Es fällt ihren sehr schwer, stabile Bindungen und Beziehungen aufzubauen. Nicht selten leiden Menschen, die emotionale Gewalt erfahren haben, im Erwachsenenalter unter Depressionen und Angstgefühlen. Sie sind oft weniger belastbar, stressanfällig und haben Schwierigkeiten, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Auch Traumata entstehen aufgrund emotionaler Gewalt. „Ein positives Bild von sich selbst fehlt, es fällt schwer auf sich selbst stolz sein zu können“, weiß Lidija Baumann. Kinder beziehen gewaltvolles Verhalten von Erwachsenen meist auf sich. Sie geben sich die Schuld daran. Jana Rump bemerkt: „Kinder, die psychische Gewalt erlebt haben, fühlen sich häufig wert- und hilflos, sie trauen sich selbst weniger zu und erlangen dadurch ein geringes Selbstwertgefühl. Manche Kinder übernehmen das Verhalten der gewaltausübenden Elternteile. Sie beleidigen und bedrohen dann andere Kinder. Das tun sie, um sich selbst nicht mehr machtlos zu fühlen.“

Ursachen für psychische Gewalt gibt es viele und meistens kommen mehrere Risikofaktoren zusammen. Manchmal haben Eltern in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren und verhalten sich dann ebenso gegenüber ihren eigenen Kindern. Es manifestieren sich auch Haltungen, die Eltern als Kinder selbst erlebt haben. Viele Eltern sind im Familienalltag einfach überfordert und überlastet. Unterstützung ist dann nötig. Sind Familien auf sich allein gestellt, ohne Hilfe durch Großeltern, Familie oder Freunde fällt es schwer, die Belastungen des Alltags zu tragen. „Ich erlebe viele Familien, die sind einsam und allein. Aber bei Kindern ist es einfach so, man braucht ein ganzes Dorf, eine Mama allein reicht nicht.“, stellt Lidija Baumann fest. 

Sich entschuldigen ist wichtig

Wenn Eltern ihre Kinder verbal verletzt haben, ist es sehr wichtig, mit dem Kind darüber zu sprechen. Egal ob dies absichtlich passiert ist oder aus Versehen. Eltern sollten sich für Ihr Verhalten beim Kind entschuldigen. Das muss aber ernst gemeint sein. Um die Beziehung „reparieren“ zu können, müssen Eltern die Kind-Perspektive einnehmen. Statt dem Kind ein „aber, weil du …“ entgegenzubringen, muss klar werden: Es tut mir leid, was ich gesagt oder getan habe, das hat dich verletzt. Ich will mich wirklich anders verhalten. „Entschuldigungen sind nur wirksam, wenn sie nicht ausleiern“, sagt Lidija Baumann: „Wenn Eltern das Kind immer wieder beleidigen, glaubt das Kind die Entschuldigung nicht mehr.“ Um Kindern zu helfen, die psychische Gewalt erlebt haben, sind positive Beziehungserfahrungen notwendig: „Es ist wichtig, dem Kind das Gefühl zu vermitteln, dass es wertvoll und angenommen ist“, sagt Jana Rump: „Ein bestimmtes Verhalten des Kindes war vielleicht nicht in Ordnung, aber das Kind selbst wird geliebt.“ 

Niklas´ Wunsch, dass seine Eltern aufhören zu streiten, wird sich vielleicht nicht erfüllen. Aber durch die Beratung im Kinderschutz-Zentrum hat Niklas Hilfe erfahren. Er kann dort über seine Ängste und Sorgen sprechen und auch über sein grundlegendes Bedürfnis, beide Eltern zu haben. Durch die Gespräche hat Niklas es geschafft, Aggressionen abzubauen und in der Schule wieder zurechtzukommen.

Johanna Kern, redaktionelle 
Leitung der Verbandszeitschrift, Kinderschutzbund Bundesverband

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Ausgabe 23-1

Schwerpunkt

Psychische Gewalt erkennen und vermeiden

Politik und Praxis

Kinder- und Jugendpolitik

Kinderschutz vor Ort

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