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Unsichtbare Gewalt

Schimpfen, auslachen, drohen: In der Erziehung verstecken sich Spuren von Gewalt, die mehr oder weniger deutlich sind. Wie kommt es zu dieser unsichtbaren Gewalt und warum ist es so schwierig, sie aufzuspüren?

Foto: Susanne Tessa Müller

„Wenn ich wütend bin, sage ich meinem Kind manchmal: Du bist schrecklich. Ich kann dich nicht mehr ertragen! Hinterher bin ich traurig und schäme mich, aber es passiert mir doch immer wieder.“ So wie dieser Mutter geht es vielen Eltern von Zeit zu Zeit. Sätze rutschen ihnen heraus, die sie eigentlich gar nicht sagen wollen. Sätze, die Kinder verletzen, ihnen Angst machen oder sie unter Druck setzen. 

Eltern schreien ihre Kinder an, obwohl sie das selbst nicht gut finden oder benutzen Erziehungsmethoden, von denen sie nicht überzeugt sind. Eltern haben dabei häufig ein ungutes Gefühl, schieben dieses Gefühl aber oft wieder beiseite. Dabei möchten alle Eltern, dass es ihren Kindern gut geht.   

Tatsache ist: Zwischen blanker Gewalt – körperlicher oder seelischer – und einer Erziehung ohne jegliche Gewalt, gibt es eine Grauzone. Es ist wichtig, diese Grauzone genauer zu betrachten und das eigene Erziehungsverhalten zu hinterfragen. Hier kann helfen, sich mit der eigenen Sozialisation auseinanderzusetzen: Es scheint uns ganz normal zu sein, dass Erwachsene über Kindern stehen. Das führt manchmal dazu, dass Erwachsene Kindern mit weniger Respekt begegnen und Kinder allein aufgrund ihres Alters diskriminieren. Das nennt man auch Adultismus. Hinzu kommt, dass Eltern in ihrem Arbeits- und Familienleben permanent große Herausforderungen meistern müssen, die sie an ihre Belastungsgrenze bringen oder auch darüber hinaus. 

Grenzen setzen ist schwer

Versteckte Gewalt passiert häufig, wenn Eltern ihren Kindern Grenzen setzen oder sie zu etwas bewegen möchten. Kinder werden gehetzt und unter Druck gesetzt mit Sätzen wie: „Ich zähle gleich bis drei und dann…“. Kinder werden auf der Straße stehengelassen, wenn sie sich weigern, ihren Eltern zu folgen. „Na gut, dann bleibst du eben hier. Ich gehe jetzt.“ Dabei wissen Eltern und Kinder, dass das Kind noch gar nicht in der Lage ist, allein nach Hause zu finden. 
Kinder werden ausgelacht, wenn sie ihre Gefühle, wie zum Beispiel Wut in kindlicher Sprache äußern, weil sie so „süß“ sind. Oder ihr Ärger wird abgetan mit Bemerkungen wie „Was machst du denn schon wieder für ein Theater?“ Schimpfen, schreien und drohen sind häufig ein Bestandteil des Familienalltags: „Wenn du nicht gleich…, dann…“ „Du nervst.“ „Immer machst du…“ Manchmal wird dann noch die Schuld für das eigene unzulängliche Verhalten beim Kind abgeladen, als seien Erwachsene nicht verantwortlich für ihre eigenen Worte und Taten: „Musst du denn immer so lange weitermachen, bis ich laut werde?“ 

Sich selbst überprüfen

Ob ihre Äußerungen seelische Gewalt beinhalten oder die Würde von Kindern verletzen, können Eltern testen: Würde ich meinem*r Partner*in oder einem*r Freund*in erlauben auf diese Weise mit mir zu sprechen? Wenn die Antwort nein ist, warum sollte es dann in Ordnung sein, so mit einem Kind zu sprechen? 

Manche Eltern sind verunsichert und irritiert

Darf ich gar nicht mehr einschreiten, wenn mir etwas an dem Verhalten meines Kindes missfällt? Wie setze ich Grenzen, ohne mein Kind zu unterdrücken, zu diskriminieren? Eltern dürfen ihren Kindern, wie auch allen anderen Menschen, ihre Grenzen klar und deutlich aufzeigen. „Nein, ich bin zu müde, um jetzt mit dir zu spielen.“ Dieser Satz ist in Ordnung und manchmal nötig, um sich selbst vor Überforderung zu bewahren. Beim Nein sagen den richtigen Ton zu treffen, ist die Herausforderung. Wenn Eltern das Gefühl haben, von ihren Kindern nicht ernst genommen zu werden, markieren sie ihre Grenzen gelegentlich sehr harsch. Kinder fühlen sich dann verletzt oder ihr Widerstand wird geweckt. 

Manchmal fallen Eltern in das andere Extrem. Im Bestreben, ihren Kindern so viel Freiheit wie möglich zu gewähren, scheuen sie sich, ihnen überhaupt Grenzen zu setzen. Oder sie tun dies mit einem Lächeln und in einem Ton, der fast entschuldigend ist, sodass die Kinder die Grenze gar nicht erkennen können. „Tritt mich nicht, denn das tut mir weh.“ Dieser Satz muss klar und bestimmt geäußert werden, damit Kinder ihn verstehen. Denn nur so lernen sie Grenzen anderer zu respektieren und auch eigene Grenzen klar zu setzen. 

Adultismus

Zwischen Erwachsenen und Kindern besteht generell ein Machtungleichgewicht. Dieses Machtungleichgewicht wird durch Institutionen, Gesetze und Traditionen unterstützt. Erwachsene gehen oft davon aus, dass sie durch ihr Alter reifer und kompetenter sind als Kinder und sich über die Bedürfnisse und Meinungen von Kindern und Jugendlichen hinwegsetzen können. Dabei merken viele Erwachsene nicht, dass sie Kinder dadurch diskriminieren. 

Der Begriff Adultismus bezeichnet die Herabsetzung von Kindern durch Erwachsene. Viele Menschen nehmen Adultismus gar nicht wahr, weil sie voraussetzen, dass Kinder und Jugendliche zu gehorchen haben. Adultismus ist die erste Form von Diskriminierung, die jedes Kind erlebt. 

Ein ungleiches Machtverhältnis kommt in Familien vor, aber auch in pädagogischen Einrichtungen. Adultismus drückt sich auch in scheinbar selbstverständlichen Regeln aus, die zwar zum Schutz sinnvoll sein können, aber nur für Kinder oder Jugendliche gelten – nicht für die Erwachsenen. Durch adultistisches Verhalten der Erwachsenen lernen Kinder von Beginn an, dass es ein „oben“ und ein „unten“ in der Gesellschaft gibt und es normal ist, andere zu unterdrücken. Dies kann dazu führen, andere Diskriminierungsformen zu akzeptieren oder selbst auszuüben.

Erklärfilm von Naiv-Kollektiv: Was ist Adultismus?


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Foto: Susanne Tessa Müller

Freiräume helfen

Bei elterlicher Wut hilft es in Stressmomenten tief durchzuatmen, lautlos bis 20 zu zählen oder kurz den Raum zu verlassen, um möglichst nicht zu explodieren. Vor allem aber sollten Eltern auf langfristige Strategien setzen: Es ist sehr hilfreich, sich über die Entwicklungsstufen von Kindern und Jugendlichen zu informieren. Wird der Wutanfall des Kleinkindes oder das maulige Gesicht des 

Teenagers als altersgerecht und notwendig verstanden, dann ist beides leichter auszuhalten. Geduldig sein kann nur, wer eigene Freiräume hat. Zeit zum Lesen und Entspannen, für Sport oder das Zusammensein mit Freund*innen auch mal ohne Kind, sind kein Luxus, sondern notwendige Selbstfürsorge. 

Um das eigene Verhalten zu verändern, ist es vor allem zentral, dass Eltern ihre eigene Kindheit und ihr Erziehungsverhalten reflektieren. Dies geht zum Bespiel im Elternkurs Starke Eltern – Starke Kinder®, oder in Gesprächen in der Partnerschaft oder mit Freund*innen. Dabei brauchen Eltern eine versöhnliche Haltung: Persönliche und gesellschaftliche Muster zu durchbrechen kostet Kraft und vor allem auch Zeit. Fehler machen ist menschlich. Eltern sollten nicht nur ihren Kindern gegenüber tolerant sein, sondern unbedingt auch sich selbst. 

Konstanze Butenuth, Projektleitung Starke Eltern – Starke Kinder® DIGITAL, Kinderschutzbund Bundesverband


Ausgabe 23-1

Schwerpunkt

Psychische Gewalt erkennen und vermeiden

Politik und Praxis

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