
Kampf gegen Kinderarmut
Kinderarmut in Deutschland sichtbar zu machen und zu bekämpfen, ist eine zentrale Frage des Kinderschutzes. Der Kinderschutzbund setzt sich für eine Kindergrundsicherung ein – und für eine faire Haltung gegenüber betroffenen Familien.
Für den Kinderschutzbund hat es eine hohe Priorität, Kinderarmut zu bekämpfen. Denn Kinderarmut hat immense Auswirkungen auf die betroffenen Kinder und prägt bis in das Erwachsenenalter. Kinderarmut in Deutschland bedeutet, ausgeschlossen zu sein. Kinder können nicht mitmachen, weil das Geld nicht reicht. Manchen Eltern ist es nicht möglich, Geld für die Klassenfahrt, den Eintritt ins Kino oder eine neue wetterfeste Jacke aufzubringen. Arm sein begrenzt die Möglichkeiten. Und es begrenzt die Bildungschancen. Arm sein heißt für Kinder meistens auch, arm zu bleiben. In unserer Gesellschaft ist es für Familien sehr schwer, aus der Armut herauszukommen. Kinder aus armen Familien werden zusätzlich häufig stigmatisiert und ausgegrenzt. Das macht die Situation für Kinder noch schlimmer.
Der Kinderschutzbund engagiert sich seit langem umfangreich im Kampf gegen Kinderarmut. Um etwas bewirken zu können sind zwei Dinge essenziell und nur gemeinsam zielführend: Zum einen ist eine bessere Infrastruktur für Kinder notwendig, zum anderen braucht es höhere Geldleistungen. Die Geldleistungen müssen dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht werden. Der Kinderschutzbund hat 2009 das Bündnis KINDERGRUNDSICHERUNG mitgegründet, das seitdem eine echte Kindergrundsicherung fordert. Ziel ist es, die finanzielle Lage von Kindern zu verbessern und ein sozial gerechteres System der Familienleistungen und Familienentlastungen zu schaffen. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Ampelregierung wurde die langjährige Forderung nach einer Kindergrundsicherung erstmalig aufgenommen und soll nun umgesetzt werden. Ein Erfolg. Aber damit gibt sich der Kinderschutzbund noch nicht zufrieden. Es gilt jetzt erst recht hinzuschauen, damit eine Kindergrundsicherung kommt, die ihren Namen auch verdient.
Die Idee ist, dass die Kindergrundsicherung möglichst viele Leistungen zusammenführt und automatisch ausgezahlt wird. Damit soll das derzeitige sozial ungerechte System und unübersichtliche Wirrwarr von Familienleistungen abgelöst werden. Die Höhe des Geldbetrages muss zukünftig eine echte Teilhabe von Kindern ermöglichen. Der Kinderschutzbund fordert eine Kindergrundsicherung mit diesen Eckpunkten:
Familienleistungen müssen gebündelt und einfach zu beziehen sein
Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch II, Kindergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag, Bildungs- und Teilhabepaket, Kinderfreibetrag: In Deutschland gibt es aktuell 150 familienpolitische Leistungen. Das System ist viel zu kompliziert und bürokratisch. Die Leistungen sind schlecht aufeinander abgestimmt. Viele Familien kennen die einzelnen Leistungen nicht oder wissen nicht, dass sie einen Anspruch darauf haben. Dadurch gehen viele Ansprüche verloren – Geld, das den Familien fehlt. Den Kinderzuschlag beantragen zum Beispiel nur rund ein Drittel der Familien, denen die Leistung zusteht. Der Kinderschutzbund fordert, die Familienleistungen zusammenzulegen.
Familien schämen sich auch dafür, Leistungen zu beantragen. Sie kämpfen sich lieber mit zu geringen Mitteln und zu hohen Familienkosten durch den Alltag, als Sozialleistungen zu empfangen. Viele Menschen sehen sich selbst nicht als arm, obwohl sie es statistisch gesehen sind. Arm sein stigmatisiert. Arm sein schmerzt. Leistungen aus dem Bürgergeld werden auch deshalb oft nicht beansprucht. Wenn aber alle Familien eine Kindergrundsicherung bekämen – nur eben in unterschiedlicher Höhe – wären stigmatisierende Gefühle vergessen.
Die Leistung kommt automatisch
Es ist derzeit sehr aufwändig, Anträge für Leistungen zu stellen. Die Zeit der Familien ist knapp. Familien haben Wichtigeres zu tun, als seitenweise Formulare auszufüllen und abzuwägen, welches Geld sie von welcher Stelle erhalten könnten. Deswegen fordert der Kinderschutzbund eine möglichst automatisierte Kindergrundsicherung. Wenn die künftige Kindergrundsicherungsstelle nach der Geburt eines Kindes auf vorliegende Daten zurückgreifen könnte, würden automatisch Anspruch und Höhe geprüft. Der lästige und unangenehme Weg zum Jobcenter entfiele. Alle Eltern würden im Optimum einfach eine Kindergrundsicherung direkt auf das Konto erhalten.
Behörden sollten, wo es trotzdem notwendig wird, in Zukunft mit den Bürger*innen stärker auf digitalen Wegen kommunizieren. Hier gäbe es viele Möglichkeiten zu erklären, zu erinnern oder zu beraten. Viele Familien, die heute ihnen zustehende Leistungen nicht wahrnehmen, wären dann besser informiert und damit auch bessergestellt. Das würde nicht nur die Situation vieler Kinder verbessern, sondern auch viele Familien mit geringem und mittlerem Familieneinkommen stark entlasten.
Ungerechte Familienförderung beenden
Familien mit mittlerem Einkommen werden aktuell über die Kinderfreibeträge und das Kindegeld finanziell entlastet. Wenig bekannt ist allerdings, dass Familien mit hohem Einkommen deutlich stärker entlastet werden. Bis zu 25.000 € mehr kann eine reiche Familie im Vergleich zu einer Familie aus dem Mittelstand für ihr Kind erhalten, bis es volljährig ist. Ist das gerecht? Der Kinderschutzbund spricht sich gegen diese ungerechte Behandlung ausdrücklich aus. Die Kinderfreibeträge sollten in einer Kindergrundsicherung aufgehen, denn starke Schultern können mehr tragen. Die staatliche Unterstützung für Kinder und Familien muss stehts aus der Sicht eines Kindes gedacht werden.
Die Höhe der Leistung ist entscheidend
Der Betrag, den Familien durch eine künftige Kindergrundsicherung erhalten, muss reichen, um alle Kosten zu decken – egal in welcher Familienkonstellation. Jedes Kind hat es verdient, ohne materielle Sorgen aufzuwachsen. Der Kinderschutzbund fordert ein zweistufiges System der Kindergrundsicherung: Alle Familien sollen einen Garantiebetrag bekommen, unabhängig von ihrem Einkommen. Bedürftige Kinder und ihre Familien sollen zudem einen Zusatzbetrag bekommen, der vom Einkommen der Eltern abhängt. Dadurch würde ein fließender Übergang entstehen. Die Beträge müssen so gewählt sein, dass sich Erwerbsarbeit für Eltern weiterhin lohnt. Bei jeder Familie würde so viel Geld ankommen wie für die Kinder notwendig ist. Minimal wären das 354 €, maximal 746 € pro Kind. Das klingt nach einer hohen Summe? Es ist der Betrag, mit dem der Staat Kinder aus reichen Familien schon heute maximal entlastet. Jedes Kind ist aber gleich wertvoll, egal aus welcher Familie es kommt. Das muss sich auch in der Leistung widerspiegeln.
Der Kinderschutzbund engagiert sich dafür, dass Kinder jeder Herkunft eine sorgenfreie Kindheit erleben und sich optimal entfalten können. Um das zu ermöglichen, braucht es neben politischen Änderungen noch etwas: Mehr Menschen mit einer eindeutigen Einstellung zum Thema Armut, mit einer klaren Haltung. Wir alle sind von Klischees geprägt, die es immer wieder zu hinterfragen gilt. Es lohnt sich, in unserem täglichen Handeln zu überlegen, wie wir selbst mit Menschen, die von Armut betroffen sind, besser umgehen. Muss es die teure Klassenfahrt nach Paris sein, die sich mindestens zwei Kinder der Klasse nicht, oder nur mit Hilfe des Jobcenters, leisten können? Ist es nicht sowieso viel schöner in das Schullandheim in der Umgebung zu fahren? Muss mein Kind die neuesten elektronischen Geräte, Markenkleidung und teures Spielzeug haben? Oder ist es nicht sinnvoll, darüber nachzudenken, ob der Sitznachbar in der Schule vielleicht nicht mithalten kann? Wo können wir kleine Dinge im Alltag verändern, um es betroffenen Familien leichter zu machen? Kinder sollten weniger in die Verlegenheit kommen, ihre Armut aktiv benennen zu müssen und als weniger finanziell abgesichert entblößt zu werden. Der Kinderschutzbund nimmt die Reflektion des eigenen Handelns sehr ernst. Auf einer Fachtagung wird es in diesem Jahr um armutssensibles Handeln gehen. Der Kinderschutzbund hält sich dann selbst den Spiegel vor und wird zusammentragen, was in der täglichen Arbeit verbessert werden kann.
Als Gesellschaft setzen wir Armut viel zu oft mit Faulheit gleich und suchen die Schuld bei den Betroffenen. Gerade aus Sicht der Kinder ist das absurd, denn kein Kind sucht sich seine Familie selbst aus. Jedes Kind wünscht sich einfach liebende Eltern, die für es da sind. Die Eltern geben meist alles, damit es ihren Kindern gut geht. Familien sind nicht freiwillig arm. Der Weg aus der Armut heraus dauert in Deutschland im Schnitt fast sechs Generationen. Es ist also in vielen Fällen bis heute vererbt, arm zu sein. Obwohl Deutschland ein reiches Land ist, haben Familien mit Kindern hier ein erhöhtes Risiko arm zu werden. Alleinerziehende sind besonders häufig von Armut betroffen, aber auch Familien, in denen drei oder mehr Kinder leben. Über alle Familienformen hinweg steigt das Armutsrisiko mit der Kinderzahl. Das muss sich ändern! Eine echte Kindergrundsicherung ist als erster Baustein mehr als überfällig, damit die Kinderarmut in Deutschland endlich zurückgeht.
Paula Wenning, Fachreferentin für Soziale Sicherung, Kinderschutzbund Bundesverband