Schwerpunkt

Psychische Gewalt schadet

Dr. med. Hauke Duckwitz kennt sich mit psychischer Gewalt an Kindern sehr gut aus. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, mit Schwerpunkt in der Neuropädiatrie. 
Darüber hinaus ist Hauke Duckwitz auch Vorsitzender des Kinderschutzbundes Düsseldorf.

Foto: privat

Herr Duckwitz, Sie sind Oberarzt im Sana Krankenhaus Gerresheim. Welche Rolle spielt psychische Gewalt gegen Kinder in Ihrem beruflichen Alltag?

DUCKWITZ: Wir beschäftigen uns in unserem klinischen Kontext viel mit jungen Kindern, die Entwicklungsauffälligkeiten in unterschiedlichen Bereichen zeigen. Das sind Auffälligkeiten insbesondere in den Bereichen Sprache, Kommunikation und Verhaltenssteuerung. Diese können Folgen von Gewalt, insbesondere auch von psychischer Gewalt, sein. 

Das haben wir immer im Hinterkopf, nicht nur bei der Ursachenforschung, sondern auch im Hinblick auf die therapeutischen Interventionen. Für die Behandlung ist es wichtig, auch den familiären Kontext, die Elternsituation und das Erziehungsverhalten, soweit das denn geht, in die Überlegungen miteinzubeziehen.

Welche Auffälligkeiten zeigen Kinder, die psychische Gewalt erlebt haben?

DUCKWITZ: Psychische Gewalt kann dazu führen, dass sich das Gesamtentwicklungstempo verlangsamt. Wie sich das äußert, ist altersbedingt. 

Bei den 2-4–Jährigen kann zum Beispiel die Sprachentwicklung gehemmt sein. Erfahrungen von psychischer Gewalt wirken sich auf die Verhaltenssteuerung aus, das betrifft dann Konzentration, Impulskontrolle, aber auch die Fähigkeit Emotionen zu regulieren. Das sind Auffälligkeiten, die man manchmal bei älteren Kindern im Kontext von „ADHS“ betrachtet. 

Es stellt sich aber immer wieder heraus, dass zumindest ein relevanter Teil der Ursachen auch in psychischen Gewalterfahrungen liegt. 

Welche langfristigen Folgen kann ein Kind davontragen, wenn es über längere Zeit psychische Gewalt erlebt hat? 

DUCKWITZ: Menschen, die psychische Gewalt in der Kindheit erlebt haben, erkranken tendenziell häufiger an psychischen Krankheiten. Angststörungen, Essstörungen, Depressionen und selbst Suizide kommen bei ihnen etwa dreimal so häufig vor wie bei Menschen, die nicht diese Belastungen in der Kindheit hatten. Das Risiko ist auf jeden Fall relevant erhöht. 

Auch das Risiko für körperliche Erkrankungen ist erhöht. Es gibt bei vielen Erkrankungsbildern eine um Faktor zwei erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit, wenn psychische Gewalt in der Kindheit erlebt wurde. Das gilt für Zivilisationskrankheiten wie Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Herzinfarkte, Diabetes, aber auch für Krebserkrankungen. Besonders häufig ist in dem Zusammenhang die chronische Bronchitis. 

Es gibt auch Zusammenhänge bei Kindern mit Asthma und kindlichen Traumatisierungen. Da scheint der Zusammenhang sogar noch ein bisschen höher zu sein.

In mehreren Studien wurde nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit vor dem 70. Lebensjahr zu sterben verdoppelt ist, wenn in der Kindheit psychische Gewalt erlebt wurde. Also das ist ein gesamtgesundheitspolitisches Thema – nicht nur im Bereich psychischer Erkrankungen, sondern auch im Bereich der körperlichen.

Warum ist das Risiko für körperliche Erkrankungen im Erwachsenenalter durch psychische Gewalt in der Kindheit erhöht?

DUCKWITZ: Eine allumfassende Erklärung gibt es noch nicht. Es gibt aber immer mehr Hinweise darauf, dass sich erlebte psychische Gewalt im wahrsten Sinne des Wortes im Gehirn abbildet. Bei Untersuchungen von Erwachsenen mit Gewalterfahrungen in der Kindheit sieht man, dass bestimmte Hirnstrukturen kleiner sind als bei Menschen ohne Gewalterfahrung. Psychische Gewalt in der Kindheit führt auch dazu, dass das Gehirn überempfindlich auf Emotionen reagiert. 

Es wird davon ausgegangen, dass es auch genetisch bedingt ist, inwiefern erlebte Gewalt in der Kindheit zu Erkrankungen im Erwachsenenalter führt. Gleichzeitig wissen wir inzwischen durch die Epigenetik, dass selbst die Gene durch Lebensereignisse wie z.B. Stress in der Schwangerschaft beeinflussbar sind. Am Ende führen viele Einzelfaktoren in der Summe dazu, dass das individuelle Erkrankungsrisiko, das jeder hat, erhöht wird. Aber welche Rolle welcher Mechanismus genau spielt, weiß man noch nicht.

Wie kann man Kinder besser vor den Folgen von psychischer Gewalt schützen?

DUCKWITZ: Das Wichtigste ist die Prävention. Es muss erstmal ein Bewusstsein geschaffen werden. Dieses Bewusstsein, dass Gewalt schädlich ist, ist selbst bei körperlicher Gewalt noch nicht immer vorhanden, obwohl hier schon große Fortschritte erzielt wurden. Bei psychischer Gewalt stehen wir noch ganz am Anfang. 

Es ist wichtig, dass man Eltern nicht allein lässt. Man muss alternative Verhaltensweisen aufzeigen. Ich glaube, dass im Kontext psychischer Gewalt vieles aus mangelnden oder eigenen Erfahrungen oder Überforderung heraus passiert. Angebote wie die Starke Eltern – Starke Kinder® – Kurse können hier helfen. 

Es ist wichtig, dass Fachkräfte ein Bewusstsein für psychische Gewalt haben. Keiner sollte akzeptieren, wenn Eltern mit ihren Kindern schlecht umgehen. Hier ist es wichtig, das anzusprechen. Außerdem brauchen Kinder Alternativorte wie die Kita oder Schulen, wo sie Sicherheit, Zuneigung und Anerkennung erfahren. 
Wenn Kindern an diesen Orten auch noch Ablehnung erfahren und negatives Feedback bekommen, macht das die Sache nicht besser. Sowohl auf Elternebene als auch auf institutioneller Ebene kann präventiv einiges getan werden.

Wie viele Kinder sind psychischer Gewalt ausgesetzt?  

DUCKWITZ: Da kann ich schwierig Zahlen nennen. Es lässt sich aber schon sagen, dass psychische Gewalt deutlich häufiger vorkommt als körperliche oder auch sexualisierte Gewalt. 

Es gibt aber viele Kinder, die psychischer Gewalt ausgesetzt sind und aufgrund ihrer hohen Widerstandsfähigkeit keine große oder auch gar keine Schädigung erleiden. Wenn man Kindern etwas Gutes tun will, muss man ihnen beibringen, sich Gehör zu verschaffen. Man sollte sie darin stärken frühzeitig Worte zu finden und zu erkennen, dass man über psychische Gewalt sprechen kann, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, damit umzugehen. Das fängt in der Kita an und sollte nicht mit dem Schulbeginn aufhören. Es muss allen bewusst sein, dass Resilienz für die kognitive Entwicklung von Kindern entscheidend ist. 

Wenn wir Kinder in die Lage versetzen, mit problematischen Situationen besser umgehen zu können, dann machen wir sie auch lernfähiger. Das ist eine echte Investition in die Zukunft.

Interview: Paula Faul, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Kinderschutzbund Bundesverband

Nummer gegen Kummer

Damit Kinder und Jugendliche mit Sorgen, Problemen und Ängsten nicht allein bleiben, gibt es die Beratungsangebote der „Nummer gegen Kummer“. Die „Nummer gegen Kummer“ ist bundesweit tätig. Kinder und Jugendliche können sich am Kinder- und Jugendtelefon kostenlos und anonym unter der Telefonnummer 116 111 (montags bis samstags von 14 Uhr bis 20 Uhr) oder in der Online-Beratung per E-Mail oder Chat Hilfe suchen. Für Eltern und andere Erziehungsberechtigte haben Beratende am Elterntelefon unter 0800 111 0 550 (montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 19 Uhr) ein offenes Ohr. Die neu eingerichtete Helpline Ukraine ist unter 0800 500 225 0 (montags bis freitags von 14.00 Uhr bis 17 Uhr) erreichbar. Hier findet Beratung auf Ukrainisch und Russisch statt. Alle Beratungsangebote sind anonym und kostenlos.

Damit noch mehr Schüler*innen von den Beratungsangeboten der „Nummer gegen Kummer“ erfahren und wissen, an wen sie sich bei Sorgen und Problemen wenden können, gibt es seit Herbst 2022 eine Schulbox mit Informationsmaterialien. Jede Schule in Deutschland kann die Schulbox kostenlos bestellen. 

bmfsfj.de/schulbox   


Ausgabe 23-1

Schwerpunkt

Psychische Gewalt erkennen und vermeiden

Politik und Praxis

Kinder- und Jugendpolitik

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