
Kleine Kinder in Obhut
Der Bedarf an Plätzen in stationären Einrichtungen für Kinder unter sechs Jahren und Kleinkinder wächst. Ein Blick in die Notaufnahme „Kleine Spatzen“ des Kinderschutzbundes in Essen zeigt, wie die Kinder aufgefangen werden.
Die Inobhutnahmen von Kindern steigen stetig an. 2022 waren es mehr als 66.400 Fälle. Der Hauptgrund für den Anstieg in den Jahren 2021 und 2022 war ein wachsendes Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen aus dem Ausland. Aber auch die Kindeswohlgefährdungen nahmen zu:
Rund 29.800 Inobhutnahmen erfolgten 2022 wegen einer dringenden Gefährdung des Kindeswohls. Nach einem Rückgang in den Corona-Jahren 2020 und 2021 ist dies ein Anstieg um 1.300 Fälle oder fünf Prozent.
Vor allem im städtischen Raum, besonders in Großstädten, gewinnt das Problem an Bedeutung. Die Fallzahlen nehmen zu, gleichzeitig sind vermehrt Kinder unter 3 Jahren von Inobhutnahmen betroffen. Im Jahr 2022 nahmen die Jugendämter insgesamt 4.780 Säuglinge und Kleinkinder unter drei Jahren sowie 3.117 dreibis unter sechsjährige Kinder aus ihren Familien. Das waren rund 12 Prozent aller betroffenen Kinder.
Ähnlich gestaltete sich die Situation vor einigen Jahren auch für den Kinderschutzbund in Essen: Immer häufiger fragten Polizei und Jugendamt Plätze für sehr kleine Kinder an, die in großer Zahl abgelehnt werden mussten. Pflegefamilien standen schon damals selten zur Verfügung und sind mit den Bedürfnissen dieser Kinder oft überfordert. Hierin sah Prof. Dr. Ulrich Spie, Vorstandsvorsitzender des Ortsverbandes Essen, einen dringenden Handlungsappell: „Wenn nicht genug Plätze vor Ort vorhanden sind, bedeutet das, dass Kinder weit weg untergebracht werden und aus ihren vertrauten Kitas, Schulen und Beziehungsfeldern herausgenommen werden müssen. Das kann man nicht akzeptieren.“
Kleine Spatzen suchen ein Nest
Daraufhin begann der Ortsverband, der seinen Sitz und Tätigkeitsschwerpunkt im Essener Norden hat und bereits auf eine über 30 Jahre lange Erfahrung mit dem Betrieb stationärer Einrichtungen, wie dem „Spatzennest“, zurückblickte, mit der Planung einer stationären Einrichtung für besonders kleine Kinder. Zu den 14 Plätzen im „Spatzennest“ kamen weitere zwölf Plätze bei den „Kleinen Spatzen“ hinzu.
Das pädagogische Konzept für die „Kleine Spatzen“ war rasch erarbeitet. Doch auch die Jugendämter mussten das Vorhaben mittragen, und so ging das Konzept zunächst in eine Abstimmungsrunde und der Kinderschutzbund in die Diskussion mit den Verantwortlichen. Als die „Kleinen Spatzen“ auf dem Papier fest umrissen waren, stellte sich die Frage, wo die Einrichtung zum Leben erweckt werden sollte. Schnell war klar: „Eine Notaufnahme hat einen hohen Raumbedarf. Man kann keine Wohnung nehmen und daraus ‚Kleine Spatzen‘ machen“, so Prof. Dr. Ulrich Spie. Deshalb plante der Kinderschutzbund Essen ein neues Gebäude, erwarb dafür ein Grundstück und wurde zum Bauherrn.
Spatzenspender füllen die Finanzlücke
An eine stationäre Einrichtung für die Kleinsten werden besonders hohe Anforderungen gestellt. Das Gebäude muss mit Schlafzimmern, Küche, Räumen zum Spielen und Lernen sowie Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung für die unterschiedliche Altersstruktur der Kinder ausgelegt sein. Unter dem Strich ergab sich für den Bau der „Kleinen Spatzen“ ein Finanzbedarf von rund 1,7 Millionen Euro, die der Kinderschutzbund Essen schultern musste. Der jährliche Kostenaufwand für die beiden Kindernotaufnahmen „Spatzennest“ und „Kleine Spatzen“ beträgt knapp 3,5 Millionen Euro. Nicht gedeckt sind Kosten für zusätzliche Beratungsangebote und Verwaltungsarbeit, sodass dauerhaft ein jährlicher Spendenbedarf von rund 300.000 Euro besteht.
„Es gibt keine Fördergelder, um die Kosten für den Bau beziehungsweise die Infrastruktur solch einer Einrichtung zu stemmen. Eine Förderung gibt es nur für die Unterbringung der Kinder. Weil wir kein Vermögen haben, können wir eine neue Einrichtung nur über Spenden und Kredite finanzieren“, berichtet Prof. Dr. Ulrich Spie. So initiierte der Kinderschutzbund eine großangelegte Spendenkampagne, die schließlich zu mehreren Hundertausenden Euro zusätzlichen Mitteln führte und einen weiteren Teil der Kosten deckte.
Der erste Spatenstich erfolgte im Februar 2016. Die Bauzeit selbst betrug ein Jahr, in der das Team täglich vor Herausforderungen gestellt wurde.
Pause von zu Hause
Anfang 2017 zogen die ersten Kinder bei den „Kleinen Spatzen“ ein. Seitdem finden Kinder hier einen Platz, um zur Ruhe zu kommen und langsam wieder positiv in die Zukunft blicken zu können.
Bei Kleinkindern kommt die Anregung für die Inobhutnahmen nach Angaben des Forschungsverbundes aus TU Dortmund und Deutschem Jugendinstitut in nahezu hundert Prozent der Fälle von außen. Die Gründe sind in über 95 Prozent unter akute Kindeswohlgefährdung zusammenzufassen. Darunter fallen sowohl körperliche Misshandlung als auch sexualisierte Gewalt.
Elena Traikos, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen beim Kinderschutzbund Ortsverband Essen, erklärt: „Die Herausnahme aus einer Familie, egal aus welchen Gründen, ist immer eine extreme Belastung für ein Kind. Manchmal ist das Konzept ,,Pflegefamilie‘‘ zu eng und somit nicht zielführend, da die Pflegefamilie durch die Augen des Kindes und oftmals auch der Eltern, die ihre Mitarbeit verweigern, mehr als Konkurrenz statt als helfende Instanz gesehen wird. Je nach Ausgangslage des Kindes können wir eine gute Möglichkeit zur Resozialisierung sein oder eine Pause aus dem System ,Familie‘ bieten.“
Im Gegensatz zu Jugendgruppen ist der Personalschlüssel bei den „Kleinen Spatzen“ sehr hoch angesetzt, da Kleinstkinder rund um die Uhr betreut und angeleitet werden müssen. „Häufig beobachten wir große Entwicklungsverzögerungen, die wir natürlich schnell auffangen wollen“, so Elena Traikos. Der Essener Kinderschutzbund verfügt über ein eigenes Zentrum für Kindesentwicklung, sowie eine Interdisziplinäre Frühförderstelle. Zwischen den Therapeut*innen dort und den Notaufnahmen besteht eine enge Kooperation, sodass Kinder mit besonders hohem Bedarf zeitnah Termine erhalten.
Neben dem individuellen Förder- und Therapieplan liegt das Hauptaugenmerk des „Kleine Spatzen“-Teams darauf, den Alltag der Kinder zu gestalten.
„Wir legen Wert auf transparente Tagesabläufe, die für die Kinder möglichst stressfrei und vorhersehbar sind. Dies ist besonders wichtig für sehr belastete Kinder, deren Erregungszustand konstant hoch ist“, erklärt Elena Traikos.
Zwischen Bindung und Distanz
So gibt es beispielsweise eine Wochenübersicht, die den Dienstplan, den Menüplan und auch die Familienkontakte für die Kinder abbildet. Die Kinder, die durch die Inobhutnahme in den ersten Wochen weder Schule noch Kita besuchen, werden morgens durch die Fachkräfte gefördert. Dennoch kommt es zu Situationen, die das Team an seine Grenzen bringt.
„Auch Kinder im Kleinkindalter schaffen es in hoch erregten Zuständen das Mobiliar eines ganzen Zimmers zu zerstören, Fenster aus der Verankerung zu brechen oder im schlimmsten Fall andere Kinder und/oder die Mitarbeiter*innen anzugreifen“, gibt Elena Traikos zu bedenken. Eine hohe Professionalität hilft, dennoch geduldig und wertschätzend zu bleiben und nach dem aus Sicht des Kindes guten Grund für dieses Verhalten zu fragen. „Nicht selten gehen die Fachkräfte dabei über eigene Grenzen hinaus und halten enorm viel aus“, erklärt Traikos. Dabei gilt es, die Balance zwischen Bindung und professioneller Distanz zu wahren.
Zu einigen Kindern entwickelt sich eine enge Beziehung. Denn manche bleiben lange bei den „Kleinen Spatzen“. Obwohl die Einrichtung als Notaufnahme konzipiert ist, vergehen oft Monate, bis die weitere Perspektive geklärt ist. Oft führt der Weg dorthin über Prozesse und schwierige Auseinandersetzungen mit der Herkunftsfamilie. Die „Kleinen Spatzen“ dienen dann auch als Clearingstelle, in der alle Fäden zusammenlaufen. Außerdem sollen die Wünsche und Vorstellungen der Kinder maßgeblich sein. Das höchste Ziel, die Rückführung in die Ursprungsfamilie, wird nicht immer erreicht. Manche Kleinen Spatzen ziehen daher in Pflegefamilien, Regelwohngruppen oder therapeutische Einrichtungen um.
Da die Inobhutnahmen insgesamt und auch im Ruhrgebiet weiter ansteigen, plant der Kinderschutzbund Essen derzeit eine weitere Einrichtung, ein Kinderschutzhaus. Es soll in einigen Jahren eröffnet werden.
Sarah Janine Flocke, Mitglied des Vorstandes, Kinderschutzbund Ortsverein Essen e.V.

Man muss belastbar sein

Elena Traikos, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen beim Kinderschutzbund Essen, macht deutlich, was die tägliche Arbeit mit den Kindern in der Kindernotaufnahme bedeutet.
Was sind die größten Herausforderungen, die man als Mitarbeiter*in in einer Kindernotaufnahme bei der Arbeit mit den (Klein-)Kindern erlebt? Welche Eigenschaften und Kompetenzen benötigen Mitarbeiter*innen?
ELENA TRAIKOS: Wer in einer Kindernotaufnahme arbeitet, muss belastbar sein. Man weiß nie, was der Tag bringt, selbst wenn er durchgeplant ist. So kommt es zum Beispiel vor, dass plötzlich nachts die Bundespolizei mit einem Kind vor der Tür steht, das aus einer Familie geholt wurde. Die Lautstärke, der die Mitarbeiter*innen ausgesetzt sind, ist auch nicht zu unterschätzen. Eine Umgebung mit vielen Kleinkindern kann sehr laut sein. Auch muss man eine hohe Frustrationstoleranz haben und Ohnmachtssituationen aushalten können.
Wie wichtig sind eine gute Teamarbeit und eine gute Abstimmung der Mitarbeiter*innen, um mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten zu können?
ELENA TRAIKOS: Es gibt das Sprichwort, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, und das trifft auf die Situation in einer Kindernotaufnahme definitiv zu. Eine gute Teamarbeit ist schon aus rechtlichen Gründen unabdingbar. Gemeinsam empfiehlt das Team, wo das Kind eine passgenaue Hilfe erhält, wenn es die Notaufnahme verlässt. Das ist eine große Verantwortung, bei der niemand allein entscheiden kann.
Wie schafft man es, auf die eigene psychische Gesundheit zu achten, das heißt den Kindern eine enge Bezugsperson zu sein, ohne die Probleme mit nach Hause zu nehmen?
ELENA TRAIKOS: Für die Mitarbeiter*innen ist es ganz wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und sich äußern zu können. Wir haben wöchentliche Teamsitzungen, in denen man auch mal weinen kann, was im Beisein der Kinder nicht geht. Es gibt monatliche Fallsupervision, in denen einzelne Fälle besprochen werden, und ganz neu machen wir Leitungssupervisionen. In manchen Situationen, die sehr intensiv für die Mitarbeiter*innen sind, können sie auch ein Einzelcoaching besuchen. Das kann zum Beispiel sinnvoll sein, wenn ein Elternteil körperlich übergriffig gegenüber der Fachkraft geworden ist. Darüber hinaus braucht man eine persönliche Achtsamkeit. Dazu können die Fachkräfte auch Fortbildungen besuchen.
Interview: Vera Demuth, Redakteurin im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Kinderschutzbund Ortsverein Essen e.V.
In der Notaufnahme „Kleine Spatzen“ finden Kinder zeitweise ein neues Zuhause.
Fotos: DKSB OV Essen e.V.