Kinder in akuter Gefahr
Wenn das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen in der eigenen Familie erheblich gefährdet ist, kann das Jugendamt eine Inobhutnahme vollziehen. Gunnar Czimczik, Fachbereichsleitung Jugend und Familie (Jugendamt) der Landeshauptstadt Hannover, beantwortet, wie und warum es zu einer vorübergehenden Unterbringung außerhalb der Familie kommen kann.

Wann werden Kinder aus der Familie genommen?
CZIMCZIK: Ein Kind aus ihrer*seiner Familie zu nehmen ist ein gravierender Eingriff des Jugendamtes und bedarf wesentlicher Gründe. Diese sind zum Beispiel eine akute oder andauernde Gefährdung des Kindes auf Entscheidung des Familiengerichtes oder bei Gefahr im Verzug. Es kommt aber auch vor, dass Kinder oder Jugendliche selbst darum bitten, ihre Familie zu verlassen. Das passiert teilweise auch mit Zustimmung der Eltern. Grundlegend sind die Paragraphen 42 SGB VIII (Inobhutnahme) und 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung).
Was sind die Gründe dafür?
CZIMCZIK: Die Gründe für eine Inobhutnahme durch das Jugendamt sind vielfältig. Es kommen beispielsweise körperliche Misshandlung, psychische Gewalt, sexualisierte Gewalt, also Missbrauch, körperliche und/oder seelische Vernachlässigung oder seelische Misshandlung vor.
Aber auch der Drogenmissbrauch der Eltern, wenn Eltern ihren Kindern zum Beispiel den Besuch der Schule versagen oder keine Kooperationsbereitschaft im Rahmen von anderen Hilfemaßnahmen da ist, können Gründe für eine Inobhutnahme sein.
Was für ein System steht dahinter?
CZIMCZIK: Das SGB VIII definiert den Rechtsrahmen, hier sind die Rechte und Pflichten klar verankert. Das konkrete Vorgehen ist in den verschiedenen Bundesländern und Kommunen unterschiedlich geregelt. Im Kommunalen Sozialdienst (KSD) der Landeshauptstadt Hannover gibt es für den Fall einer Inobhutnahme einen klar strukturierten Ablauf. Die Arbeitsabläufe sind genau festgelegt und eingeübt. Bei akuter Inobhutnahme, also wenn Gefahr im Verzug ist, sind immer zwei Mitarbeiter*innen im Einsatz. Zu der vorgenommenen Gefährdungseinschätzung müssen kollegiale Beratungen mit mindestens vier Mitarbeiter*innen durchgeführt werden. Die jeweilige Dienststellenleitung ist einzubinden und im Rahmen eines Gespräches zu informieren.
Was passiert alles vor einer Inobhutnahme?
CZIMCZIK: Am Anfang steht immer die Prüfung der gewichtigen Anhaltspunkte der Gefährdung: Wie verlässlich sind die Aussagen? Gibt es gesicherte Beweise? Was ergeben Nachfragen bei Schule oder Kita? Die fallverantwortliche Fachkraft berät den Fall und sucht sich im Team Unterstützung. Teilweise beginnt im Hintergrund schon die Suche nach einer geeigneten Inobhutnahmeeinrichtung.
Im Rahmen des Hausbesuches führen die Mitarbeiter*innen des KSD ein Gespräch mit den Eltern vor Ort. Der Hausbesuch wird immer zu zweit vorgenommen. Im Vordergrund steht die Klärung der gefährdenden Aspekte und die Frage, wie eine Gefährdung für das Kind abgewendet werden kann. Es wird auch geprüft, ob die Eltern bereit sind, zu kooperieren.
Sollte Kooperationsbereitschaft da sein, besteht die Möglichkeit einer Schutzvereinbarung mit Sorgepflichten, die die Eltern dem KSD gegenüber nachweislich erfüllen müssen. Ist die Kooperationsbereitschaft nicht vorhanden, wird das Familiengericht eingeschaltet.
Nur bei akuter Gefahr des Kindes wird es direkt bei dem Hausbesuch von den Mitarbeiter*innen in Obhut genommen. Das kommt umso eher vor, umso jünger das Kind ist.
Wie kann man sich eine Inobhutnahme praktisch vorstellen?
CZIMCZIK: Aus Sicht der Eltern passiert in einer akuten Gefährdung Folgendes:
Es klingelt an der Tür, zwei Mitarbeitende des KSD fragen, ob sie hereinkommen dürfen. Den Eltern wird die Gefährdung benannt und erläutert, welche gewichtigen Anhaltspunkte gemeldet wurden. Sie erhalten die Möglichkeit, die eigene Situation selbst darzustellen oder das eigene Verhalten aufzuzeigen. Die Mitarbeiter*innen des Jugendamtes erläutern das weitere Vorgehen und die verschiedenen Möglichkeiten der Kooperation. Im Falle einer Kooperation wird gemeinsam eine Schutzvereinbarung erstellt. Die miteinander getroffene Vereinbarung wird schriftlich festgehalten und von den Mitarbeiter*innen sowie Eltern unterschrieben. Die Vereinbarung wird regelmäßig überprüft.
Sollte eine Inobhutnahme erfolgen, kann das mit Zustimmung der Eltern sofort passieren. Stimmen diese nicht zu, wird unverzüglich das Familiengericht angeschrieben und um eine Entscheidung gebeten.
Aus Sicht der Mitarbeiter*innen des Jugendamtes passiert Folgendes:
Die Mitarbeiter*innen des Jugendamtes haben die Aufgabe, die Ausführungen der Eltern, die Kooperationsbereitschaft zu bewerten und die akute Gefährdungslage neu einzuschätzen. Sie sprechen mit den Eltern und dem Kind. Mit dem Kind wird altersangemessen und alleine gesprochen, um zu erfahren, wie das Kind die Situation erlebt hat.
Sie nehmen das Kind – bezogen auf die Gefährdung – sowie die Wohnverhältnisse in Augenschein. Sie prüfen, ob es Anzeichen für körperliche Gewalt oder Vernachlässigung gibt. Zum Beispiel bei Säuglingen wird das Kind im Beisein der*s Bezirkssozialarbeiter*in gewickelt.
Wichtig ist: Es steht immer das Wohl des Kindes im Vordergrund. Viele Eltern stimmen der Inobhutnahme zu, da sie im gemeinsamen Gespräch ihre Überforderung mit der aktuellen Situation erkennen.
Die Mitarbeiter*innen versuchen stets eine ruhige und weitestgehend entspannte Atmosphäre für die Kinder zu ermöglichen, was leider nicht immer gelingt.
Wie reagieren die Kinder?
CZIMCZIK: Kinder und Jugendliche reagieren unterschiedlich auf eine Inobhutnahme. Die Reaktion reicht von befreit oder erlöst bis hin zu verängstigt und traurig. Manche Inobhutnahmen erfolgen auch innerhalb der Familie, das heißt das Kind geht zu den Großeltern oder dem anderen Elternteil. Das ist weniger belastend für das Kind als eine Unterbringung in einer Inobhutnahmeeinrichtung.
Was macht so ein Erlebnis mit Kindern?
CZIMCZIK: Eine Inobhutnahme ist ein einschneidendes Erlebnis, bietet aber auch die Möglichkeit mit Abstand und neuen Eindrücken auf die eigenen Eltern zu reagieren.
Gerade Säuglinge und Kleinkinder zeigen in der Inobhutnahmestelle oft ihr starkes Bedürfnis nach Zuwendung und Aufmerksamkeit.
Kinder lernen ein anderes Bindungsangebot kennen, es besteht die Möglichkeit eine angst- und gewaltfreie Lebensumgebung zu erfahren. Kinder kommen während der Inobhutnahme zur Ruhe, können schlafen und erleben keine akuten Ängste haben zu müssen.
Der Kontakt zu den Eltern bleibt während der Inobhutnahme weiterhin bestehen, wird aber in Teilen gesteuert. Es ist wichtig, die Bindung zu den Eltern zu erhalten und zu fördern. Nach Abwendung der Gefährdung gehen die Kinder zurück in ihre Familie. Die Familie wird weiter vom KSD betreut, um den Kindern und den Eltern unterstützend und begleitend zur Seite zu stehen.
Interview: Johanna Kern, redaktionelle Leitung der Verbandszeitschrift,
Kinderschutzbund Bundesverband
