Politik und Praxis

Gelebte Vielfalt von klein auf

Was in der Diskussion um das neue Selbstbestimmungsgesetz das politische Berlin bewegt, hat längst in Form konkreter Bitten um Rat und Hilfen den Kinderschutzbund und seine Orts- und Kreisverbände erreicht: Kinder und Jugendliche, die ihre Identität in den unterschiedlichsten Facetten entwickeln und gestalten, Eltern, die sich mit geschlechtlicher, identitärer und sexueller Vielfalt befassen, Familien, die mehr Informationen über Diversität benötigen oder darüber in Konflikt geraten. Beispiele aus der Praxis schildert uns das Kinderhaus BLAUER ELEFANT des Kreisverbandes Landau–Südliche Weinstraße, das sich hier gut aufgestellt und breit vernetzt hat.

Jeder individuell

Bunt und einzigartig sein und dies auch leben wollen, beschäftigt Heranwachsende erfahrungsgemäß früh. Kinder spüren oftmals schon im Alter ab vier Jahren, ob sie sich als Mädchen fühlen, obwohl sie als Junge geboren wurden und umgekehrt. „Themen wie „Wer bin ich?“, Wie sieht mein Körper aus?“, „Zu welchem Geschlecht gehöre ich?“ und „Werde ich so, wie ich bin, von meinem sozialen Umfeld angenommen?“ sind schon in jüngsten Jahren prägend“, erläutert Kyra Pachner, Geschäftsführerin des Landauer Kinderhauses und ehemalige Leiterin mehrerer Kindertagesstätten sowie eines Kinder- und Familienzentrums.

Um Kinder und Jugendliche bei der vielfältigen Entwicklung der eigenen Identität zu unterstützen, zählen beim Kinderschutzbund Landau-SÜW eine gelebte Offenheit und Akzeptanz sowie die Wissensvermittlung und der Einsatz von queerem spieltherapeutischen Material zum Alltag.

Die Haltung des Kreisverbands ist durch Regenbogenfahnen an den Eingangstüren sichtbar. Regenbogentoiletten, Flyer, Kinderbücher und Spiele, die Diversität abbilden, oder Verkleidungssachen zum Experimentieren sind die eine Seite, die andere Seite ist Fachkenntnis. Die Fachkräfte der Bereiche Verwaltung, Kinderschutzdienst, Jugend- und Familienberatung und Familienbildung helfen hauptsächlich Heranwachsenden, die von Gewalt betroffen sind oder sich in Familienkrisen befinden und deren Eltern. Sie bieten auch Kurse zur Erziehung und Konfliktbewältigung an. Darüber hinaus sind sie von QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. zu LSBTQ*-Themen geschult und geben dieses Wissen auch an ihre Ehrenamtlichen weiter. „Inhalte zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sind beim Kinder- und Jugendtelefon z.B. fester Bestandteil der Ausbildungspläne“, sagt Vanessa Lang, Koordinatorin des Unterstützungsangebots.

Die „Progress-Pride-Flag“ ist eine Weiterentwicklung der Regenbogenfahne. Sie bildet auch die Themen inter* und trans* sichtbar ab und setzt ein Zeichen gegen Rassismus. | Foto: DKSB Landau-SÜW

Alles Familie

Um Eltern für identitäre und familiäre Vielfalt zu sensibilisieren, nutzt der örtliche Fachbereich Prävention des Landauer Kinderhauses zum Beispiel Bilderbücher. Für Kita-Fachkräfte gibt es Schulungen zu sexualpädagogischen Konzepten oder zur psychosexuellen Entwicklung, bei denen Materialien in Anlehnung an den Kita-Koffer von QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. genutzt werden. Der Koffer enthält Bilderbücher, Spiele für die Arbeit mit Kindern zwischen zwei und sechs Jahren und Informations-Material für Pädagog*innen. Er wird kostenlos verliehen. „So lernen Kinder vielfältige Familienformen kennen und diejenigen, die selbst in queeren Familien aufwachsen oder einen Migrationshintergrund haben, werden in ihrer Identitätsentwicklung gestärkt“, erklärt QueerNet RLP-Sprecher Joachim Schulte. Auch einen Grundschul-Koffer hält das Netzwerk von queeren Vereinen und Initiativen, das sich landesweit für die Interessen von LSBTQ*-Menschen einsetzt, bereit. 

Gut beraten

In der Landauer Jugend- und Familienberatungsstelle stehen identitäre Themen meist ab Beginn der Pubertät im Fokus. Interessen und Gefühle der Heranwachsenden wandeln sich und körperliche Veränderungen finden statt. Jugendliche probieren Partnerschaften aus und beginnen, sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Dabei kommen auch Fragen auf wie: Fühle ich mich zu Personen des eigenen Geschlechts hingezogen? Kann ich mich als eindeutig „weiblich“ oder „männlich“ zuordnen? Bin ich im falschen Körper beheimatet? Wie oute ich mich? Warum bin ich anders und wie kann ich mit meiner eigenen Unsicherheit oder Konflikten diesbezüglich umgehen?

Mika* (13 Jahre), hat im Alter von acht festgestellt, dass sie als Mädchen leben möchte. „Ich will so sein wie ich bin und mich auch verändern dürfen. Es ist mein Körper.“ Für den Vater bleibt Mika „sein Junge“, der Kontakt ist seither schwierig. Auch Mitschüler*innen grenzen sie zwischenzeitlich aus. Mika wird inzwischen mit Pubertätsblockern behandelt. Die Mutter und ein Psychologe sind an Mikas Seite, aber auch die Mitarbeiter*innen des Kinderschutzbundes bieten Rat und Hilfe.

Die psychologischen und pädagogischen Fachkräfte begleiten einzelne Jugendliche etwa bei ihrer Recherche nach Brustbindern oder anderen Bedarfen oder verweisen an spezielle Beratungsstellen sowie medizinische oder rechtliche Expert*innen. Bei wieder anderen – etwa Regenbogenfamilien, die sich trennen – ist Queersein und -leben nicht Fokus der Beratung. Christine Heeger-Roos, Leiterin des Fachbereichs, freut dies: „Authentizität ist das, was ein erfülltes Leben ausmacht. Erwachsene dürfen hier mit gutem Vorbild vorangehen und Eltern sollten zu ihren Kindern stehen, egal wie sie sind und wie sie sich ausdrücken. Die Welt ist bunt und in unserem Kern sind wir es alle.“

Bücher wie „Alles Familie“, „Julian ist eine Meerjungfrau“ oder „Männer weinen“ kommen bei der spieltherapeutischen Beratung von queeren Kindern in Landau zum Einsatz. | Foto: DKSB Landau-SÜW

Breit vernetzt

Das Landauer Kinderhaus BLAUER ELEFANT ist außerdem über die Angebote und Entwicklungen an den Schulen in Rheinland-Pfalz informiert und kooperiert mit den Fachkräften. 

Die Aufklärung zu sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten ist im Lehrplan rheinland-pfälzischer Schulen verankert. Daher werden hier, wie in anderen Bundesländern, in weiterführenden Klassen „SCHLAU-Workshops“ durchgeführt. Geschulte junge Erwachsene, die selbst lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intergeschlechtlich oder anderweitig queer sind, sprechen mit den Jugendlichen. Nach der Klärung von Begrifflichkeiten, geht es darum, Wissen zu vermitteln, um Vorurteile aufzubrechen. Zum Schluss erzählen die Ehrenamtlichen von ihrem Coming-out. „Die Workshops sensibilisieren und dienen dazu, Rollenmodelle zu hinterfragen, Diskriminierung anzusprechen und Mut zu machen“, so Kaycee Hesse, Regionalkoordinatorin von SCHLAU Landau. Sich auf Augenhöhe mit Menschen ähnlichen Alters über diese sehr persönlichen Themen auszutauschen, ist für die Schüler*innen wertvoll und kann in dieser Phase der Identitätsfindung ein wichtiger Anker sein. 

Auch die Schulsozialarbeit des örtlichen Max-Slevogt-Gymnasiums ist mit dem Kinderschutzbund vernetzt. Im Sinne des Antidiskriminierungsprogramms „Schule der Vielfalt“ unterbreiten Schulen Angebote, die für mehr Akzeptanz, Respekt und Fairness zum Zwecke eines gesunden Schulklimas werben. „Hier machen wir gerade erste wertvolle Schritte, aber es gibt noch viel zu tun“, bewertet Stefanie Mehret, Rektorin am Max-Slevogt-Gymnasium, die Situation. Jüngst wurden von der Schule Regenbogentoiletten eingerichtet und im Kollegium der Lehrkräfte gibt es queer-geoutete Rollenvorbilder. 

Die Erfahrungen in der Pfalz zeigen: Gelebte Vielfalt entsteht durch eine stetig wachsende institutionsübergreifende Zusammenarbeit, einen regen Wissenstransfer zwischen Fachkräften, gut informierte, offene und akzeptierende Familien und Gemeinschaften sowie durch das mutige Zeichensetzen eines jeden Einzelnen. Zusammen mit gesetzlichen Regelungen zur Selbstbestimmung im Sinne des Kindeswohls bilden diese Bausteine das Fundament für eine bunte Gesellschaft. Auf ihrem individuellen Weg der Identitätsentwicklung finden Heranwachsende – auch beim Kinderschutzbund – gezielt Hilfe.

Sina Ludwig, Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit, Kinderschutzbund Kreisverband Landau-SÜW

Beratungsraum in Landau | Foto: DKSB Landau-SÜW

Glossar

Lesbisch: Frauen lieben Frauen.

Schwul: Männer lieben Männer.

Bisexuell: Bisexuelle Menschen fühlen sich zu Menschen zweier oder mehrerer Geschlechter hingezogen.

Intergeschlechtlich: Bei intergeschlechtlichen Menschen entsprechen die körperlichen Geschlechtsmerkmale nicht den ausschließlich männlich oder weiblich definierten Erscheinungsformen.

Trans*: Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, sind trans*.

Queer: Überbegriff für alle Menschen, die nicht der sexuellen, geschlechtlichen oder romantischen gesellschaftlichen Norm entsprechen.

Nicht-binär: Menschen, die sich nicht ausschließlich als Mann oder Frau identifizieren können oder wollen. 

LSBTQ*: Kombination von Buchstaben, die versucht alle Identitäten im queeren Spektrum abzubilden (gibt es auch in anderen Varianten). Da das nicht möglich ist, steht am Ende das *.

Heterosexuell: Menschen, die sich zu Menschen eines anderen Geschlechts hingezogen fühlen.

Homosexuell: Menschen, die sich zu Menschen des eigenen Geschlechts hingezogen fühlen. 

Coming-out: Prozess, in dem eine Person sich selbst über ihr Geschlecht und/oder über ihre sexuelle Orientierung bewusst wird (inneres Coming-out) und beginnt, mit anderen darüber zu sprechen (äußeres Coming-out).

Engagieren sich in ihrer Kinderschutz-Arbeit für Vielfalt als eigentliche Norm: (v.l.) Artikel-Autorin Sina Ludwig, Geschäftsführerin Kyra Pachner sowie Christine Heeger-Roos, Anja Ziebler-Kühn und Vanessa Lang aus den Fachbereichen Jugend- und Familienberatung, Prävention sowie Kinder- und Jugendtelefon. | Foto: DKSB Landau-SÜW

Ausgabe 23-3

Schwerpunkt

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