© Sabine Andresen | Kinderschutzbund

Schwerpunkt

Bedingungen für ein gutes Leben

Sabine Andresen findet, Kinderschutz muss radikaler sein, um allen Kindern und Jugendlichen ein gutes Leben zu ermöglichen.

Glück? Für wen?

Ein Siebenjähriger findet auf dem Weg zu einer Hamburger Einrichtung, in der er jeden Tag nach der Schule zu Mittag isst und bei den Hausaufgaben betreut wird, ein Geldstück auf der Straße. Eine kleine Münze, aber er freut sich. Fast stolz zeigt er sie einer Gruppe von Jugendlichen, die bereits am Tisch sitzen und essen. Das bringe doch Glück, so der junge Finder. Ein Jugendlicher unterbricht einen kurzen Moment die Mahlzeit: „Glück? Für uns gibt es doch gar kein Glück.“

Die Szene, beobachtet im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Alltagserleben von Armut bei Kindern und Jugendlichen, mag ernüchtern. Das noch hoffnungsfrohe Kind wird vom etwas älteren darüber aufgeklärt, dass es nicht zu viel erwarten darf. Vielmehr würde selbst ein Glücksmoment – man findet Geld vor der Bäckerei, die Note in der Mathearbeit war besser als erwartet, die Mutter hat einen neuen Job, der Bruder leiht einem die coole Jacke aus – die dauerhafte Benachteiligung niemals ausgleichen.

Es sind solche Begebenheiten prekären Lebens von Kindern und Jugendlichen, es sind die gesellschaftlich so hartnäckigen Strukturen, das Beiseiteschieben vieler empirischer Befunde über die Wirkung und die Folgen von Armut und Diskriminierung, die verdeutlichen, wie wichtig nach wie vor eine starke Lobby für die Rechte, Bedarfe und Interessen aller Kinder und Jugendlichen ist. Hier hat der Kinderschutzbund seine Aufgabe. 

Seit Jahrzehnten prägt der Kinderschutzbund Debatten über Kinderrechte, Kinderschutz und dessen Praxis in Deutschland. Als Verband ist er auf der Bundesebene, in den Ländern und Kommunen in vielfältige Diskussions-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse eingebunden. Zu den seit Langem etablierten Themenschwerpunkten gehören der Schutz vor allen Arten von Gewalt gegen Kinder, die Etablierung und Umsetzung der Kinderrechte, die nachhaltige Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut, die Versorgung sowie Unterstützung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Der Kinderschutzbund äußert sich zu Rechtsansprüchen auf Ganztagsplätze, zu Schul- und Bildungspolitik, zu Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, zur Qualifikation von Fachkräften in allen Bereichen, die Kinder und Jugendliche begleiten und vielem mehr. 

All diese Themen und Politikbereiche haben an Relevanz nicht verloren. Sie werden über das Jahr 2023 hinaus die Arbeit prägen und je nach politischer Lage an Brisanz gewinnen.

Doch es sind weitere, für den Alltag und das gute Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zentrale Herausforderungen hinzugekommen. Diese werden wir aktiv aufgreifen müssen. 

Dazu zählen: Die Bedrohung der Zukunftsfähigkeit durch Erderwärmung, Artensterben, Klimakatastrophen und deren Folgen auch vor Ort; Der sich inzwischen dramatisch abzeichnende Fachkräftemangel in allen Bildungs-, Erziehungs- und Pflegebereichen sowie in der Kindermedizin.
Eine Art Spaltung zwischen Kindern und Jugendlichen in Armut und privilegierten Gleichaltrigen, zwischen denjenigen mit ausreichenden Ressourcen und sehr guten Chancen und denjenigen, deren Optionen sehr begrenzt sind. 
Die Auswirkungen internationaler Konflikte und dadurch ausgelöste Flucht- und Migrationsbewegungen.
Umgang mit, Zugang zu, Chancen und Risiken von Digitalisierung, digitalen und hybriden Lebenswelten, die Auswirkungen von KI auf die Gestaltung von Lern- und Bildungsräumen und  -prozessen und die Befähigung, Manipulation und Fake News zu erkennen.
Wir benötigen eine Vision, die sich im Alltag von Kindern und Jugendlichen bewähren muss und an deren Entwicklung Kinder und Jugendliche selbst zu beteiligen sind. Der Kinderschutzbund sollte einen Beitrag dazu leisten, Bedingungen eines guten Lebens für Kinder und Jugendliche auch in Krisenzeiten zu schaffen.

Das gute Leben

Die deutsche Gesellschaft sieht sich angesichts der Pandemie, der finanziellen Folgewirkungen sowie radikal veränderter Wirtschafts- und Produktionsbedingungen mit Grenzen des Wohlstands konfrontiert. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, dessen Ende derzeit nicht absehbar ist, führt vor Augen, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Von all dem sind Kinder und Jugendliche betroffen. Insbesondere stellt sich die Frage, wieviel Geld in Zukunft investiert werden wird, um die Rahmenbedingungen eines guten und chancengerechten Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. 

Gleichzeitig wird deutlich, dass viele Systeme, die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben von Kindern absichern sollen, unter dem Mangel an Personal leiden. Frühkindliche Bildung, Schule, Kinder- und Jugendhilfe oder Kinder- und Jugendmedizin können nicht mehr uneingeschränkt ihre Aufgaben im besten Interesse aller Kinder und Jugendlichen ausführen. Fachkräftemangel und demographische Entwicklung haben Konsequenzen und diese wurden lange ignoriert. 

Der Kinderschutzbund fordert, dass angesichts der genannten Krisen und der Grenzen des Wachstums nicht bei den Jüngsten gespart werden darf.

Neben den Familien sind auch Staat, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft dafür verantwortlich, dass Kinder und Jugendliche gut aufwachsen können. Sie sind für die Infrastruktur in Kommunen und auf Länder- und Bundesebene zuständig, für gerechte Einkommensmöglichkeiten und die Kultur des Miteinanders.

Ganz wichtig aber ist: Was Bedingungen des guten Lebens sind, dazu müssen auch Kinder und Jugendliche selbst Auskunft geben. Ihre Expertise wird nach wie vor ausgeblendet oder nicht ernstgenommen. Das muss sich ändern. 

Starke Verbündete

Angesichts der skizzierten gesellschaftlichen Herausforderungen muss sich auch der Kinderschutzbund in seiner haupt- und ehrenamtlichen Organisation und Kultur positionieren. Es geht im Kern um die Rechte, Interessen, die Würde und die Integrität, die materiellen Bedarfe und psychosozialen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen.

Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen: Politische Entscheidungen treffen nach wie vor erwachsene Menschen. Das führt zwangsläufig dazu, dass die Interessen der Jüngsten bei Fragen von Armutsbekämpfung, Ausbildung, Bildung, digitaler Infrastruktur, Diversität, Einwanderungspolitik, Fachkräftemangel, Klimaschutz, medizinischer Forschung, Versorgung und Qualifikation (Bsp. Notfallmedizin), Migration, Mobilität, Sicherheit, Städteplanung, Umweltschutz, Wohnungsbau und Zukunftsgestaltung keinen Vorrang haben. 

Häufig werden selbst dort, wo es zum Beispiel um Betreuungszeiten oder Kinder als zukünftige Fachkräfte geht, politische Entscheidungen mit den Bedürfnissen der Erwachsenen begründet. Das erwünschte zukünftige Leben von Kindern und Jugendlichen spielt oft eine zentralere Rolle als das Wohlbefinden in der aktuellen Lebensphase.
Wir sollten dafür eintreten, dass Kinder im Hier und Jetzt wahrgenommen werden. Überall dort, wo dezidierte Erkenntnisse fehlen, ist die Forschung zu stärken. 

Kinder und Jugendliche sind mehr als nur Teil ihrer Familie: In der Arbeitswelt, in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft sind Kinder und Jugendliche als eigenständige, mit Rechten ausgestattete Subjekte anzuerkennen. 
Die Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten dürfen nicht allein vom Einkommen der biologischen und/oder sozialen Eltern abhängen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert gibt es aus sehr guten Gründen Kinder- und Jugendarbeitsschutzgesetze. Kinder und Jugendliche sollen sich auf Spiel, Freizeit, Bildung und Freiheiten konzentrieren können. 

Die Peergruppe, Freund*innen und Gleichaltrige sind wichtig für das gelingende Aufwachsen. Kinder und Jugendliche brauchen freie Räume im eigentlichen Sinne – Orte, die keinem von Erwachsenen überformten Zweck dienen und Orte für freie, selbstgestaltete und unbeobachtete Aktivitäten.

Wir sollten uns für eine finanzielle Absicherung von Kindern einsetzen, die ihnen, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern, Optionen eröffnet. Darum ist es so wichtig, für eine Kindergrundsicherung einzutreten, durch die Armut wirksam bekämpft werden kann. Es gilt hier, auch angesichts knapper Haushalte, eine Priorität zu setzen. 

Kinder und Jugendliche müssen sich auf ihre Mitmenschen verlassen können: Zum Kindsein gehört es, Erwachsenen Vertrauen schenken zu müssen. Vertrauen prägt die Beziehung zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, darüber vermittelt sich Erziehung und Bildung. Jedes Kind, das Vertrauen schenkt, trägt das Risiko, verletzt zu werden. Dieses Risiko gilt auch für andere Altersphasen, gleichwohl ist das Vertrauen des Kindes in Erwachsene aufgrund von Ungleichheit besonders verletzlich. An Säuglingen und Kleinkindern wird besonders deutlich, wie gering ihr Einfluss auf diejenigen ist, von deren Pflege, Liebe und Fürsorge sie existenziell abhängig sind. Doch auch das Grundschulkind oder Jugendliche in der Pubertät sind darauf angewiesen, den erwachsenen Familienmitgliedern, den Erzieher*innen oder den Lehrer*innen, den Trainer*innen oder den Nachhilfepädagog*innen vertrauen zu können. 

Wir müssen uns für sichere Orte für Kinder und Jugendliche engagieren, sei es in der Familie, in Einrichtungen und Diensten oder Vereinen und Initiativen, die aufmerksam sind und Vertrauen ermöglichen. Sollte es dennoch zu Vertrauensbrüchen durch Erwachsene kommen, sind Unterstützung und Hilfen so zu gestalten, dass sie Kindern und Jugendlichen ausreichend zur Verfügung stehen. Während der Pandemie haben gerade Kinder und Jugendliche erfahren, dass eine stabile Infrastruktur und erreichbare Erwachsene nicht selbstverständlich sind. 

Kinder und Jugendliche sind vor Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt in jeder Form und vor Vernachlässigung zu bewahren: In allen gesellschaftlichen Bereichen muss es darum gehen, Kinder und Jugendliche vor solchen Handlungen zu schützen. Der Nachweis über negative Folgen, in vielen Fällen für das gesamte weitere Leben, muss nicht mehr erbracht werden. Dieses Wissen liegt vor. Es bedarf allerdings weiterer Forschung über das tatsächliche Ausmaß von Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt in jeder Form und Vernachlässigung. 

All dies findet nicht im Geheimen statt. Darum müssen Präventionsansätze die Erwachsenen, in ihren verschiedenen Rollen gegenüber dem Kind, als Mutter, Vater, Onkel, als Jugendamtsmitarbeiter*in, Lehrkraft, als ermittelnde*r Polizist*in oder Kinderärzt*in, adressieren. Die Verantwortung für Schutz und Prävention liegt vorrangig bei Erwachsenen. Sie sind es auch, die Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen, Gleichaltrige zu unterstützen und die Strukturen und ein Klima schaffen, in denen Kinder und Jugendliche offene Ohren für ihre Beschwerden, Sorgen und Nöte finden.

Kinder und Jugendliche brauchen ihre Zeit: Wir erleben eine immer stärkere Beschleunigung von Prozessen und Entwicklungen und eine damit einhergehende starke Verdichtung des Alltags. Dieser Alltagsstress wird nicht nur von Erwachsenen wahrgenommen, sondern häufig an Kinder weitergegeben. Kinder brauchen aber ihre Zeit, haben eigene Geschwindigkeiten und können nicht nur in einer beschleunigten Gesellschaft funktionieren. Kinder erleben zu häufig im Elternhaus, in den Bildungseinrichtungen, in Behörden oder bei Gericht, dass ihnen nicht ausreichend Zeit geschenkt wird, keine Zeit da ist, um zuzuhören und zu verstehen. Kinder brauchen in ihrem Alltag Zeit für Langeweile, Kreativität und Entdeckung.

Ich hoffe, viele Menschen im Kinderschutzbund sind dazu bereit, Zeit für die Stärkung von Kindern und Jugendlichen, für ein gutes Leben und nicht zuletzt für eine Idee von Glück einzusetzen.

Sabine Andresen

Prof. Dr. Sabine Andresen, 57, ist Kindheits- und Familienforscherin an der Goethe-Universität Frankfurt (Main). Sie ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.
Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Kinderarmut und Ungleichheit, sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und deren Aufarbeitung, Generationengerechtigkeit und (Bildungs-)Übergänge in Kindheit und Jugend.

Sabine Andresen ist im wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Mitglied der Sachverständigenkommission für den 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Von 2016 bis 2021 war sie ehrenamtlich Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Prof. Dr. Sabine Andresen beim „Symposium: Sexueller Kindesmissbrauch und pädosexuelle Netzwerke“ der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im Juni 2021 | Foto: Jens Ahner

Ausgabe 23-2

Schwerpunkt

Neue Herausforderungen im Kinderschutz

Politik und Praxis

Kinder- und Jugendpolitik

Kinderschutz vor Ort

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