Politik und Praxis

70 Jahre Kinderschutzbund

Der Kinderschutzbund wurde 1953 in Hamburg gegründet und ist mit seinen 50.000 Mitgliedern die größte Kinderschutzorganisation in Deutschland.

1950er und 1960er: Der Start

Im Kinderschutzbund versammeln sich Menschen, die sich aus sozialer Verantwortung heraus für Kinder einsetzen. So unterschiedlich wie ihre Ansätze des Kinderschutzes sind die Mitglieder selbst: Die einen kämpferisch, politisch, die anderen zurückhaltend, wohltätig – aber nicht weniger beharrlich. Schon bei der Gründung bestimmen die Themen „Kinder in Armut“ und „Gewalt gegen Kinder“ die Programmatik des Verbandes. Es geht darum, politisch Einfluss zu nehmen und Kinder und ihre Familien praktisch zu unterstützen. Die Arbeit wird rein ehrenamtlich geleistet. In den 60er Jahren gibt es bereits mehr als 100 Orts- und Kreisverbände. 

In der Bundesrepublik beginnt eine politische und gesellschaftliche Entwicklung: 1968 betont das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss erstmals: Kinder sind selbst Träger von Grundrechten.  


1970: Wegweisende Hilfen

1970 startet das erste Sorgentelefon beim Kinderschutzbund in Köln – ein für die Bundesrepublik wegweisendes Hilfeangebot für Kinder und Jugendliche und die Geburtsstunde für das heutige bundesweit tätige Kinder- und Jugendtelefon.
Auch die ersten Kinderhäuser werden gegründet und sind Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche; sie bieten Schularbeitenhilfe sowie Gespräche und Treffen für Mütter an. 20 Jahre nach diesen Anfängen wird 1996 – als bundesweit erstes – das Kinderhaus in Bargteheide/Schleswig-Holstein mit dem Gütesiegel BLAUER ELEFANT ausgezeichnet. Heute gibt es bundesweit 40 Kinderhäuser Blauer Elefant, die als „Starke Hilfen unter einem Dach“ zahlreiche Hilfen und unbürokratische Unterstützung für Kinder und Familien anbieten. 
1975 wird auf der Bundesmitgliederversammlung des Kinderschutzbundes in Plön die „Deutsche Charta des Kindes“ verabschiedet. Darin geht es um kindgemäße Kindertagesstätten, Schulen, Beratungsdienste aber auch um eine gesunde Umwelt. Die Charta kennzeichnet den Beginn eines Umdenkens im Kinderschutzbund: Es geht nicht mehr nur um Täter und Opfer. Auch gesellschaftliche Strukturen werden als Ursache für Benachteiligung und Gewalt gegen Kinder in den Blick genommen.


1980er: Aktiver, „moderner Kinderschutz“ 

Die 80er Jahre sind prägend: Es sind Jahre des Aufbruchs und großer Fortschritte vom eher reaktiven Kinderschutz hin zu einem aktiven, „modernen Kinderschutz“.
Der Kinderschutzbund verabschiedet die Erklärung „Hilfe statt Strafe“ und später „Hilfe statt Gewalt“ (1989) – ein Paradigmenwechsel! Nicht mehr mit einer rein straforientierten Haltung auf misshandelnde oder vernachlässigende Eltern zu schauen, sondern sich am helfenden Handeln für das Kind zu orientieren, öffnet den Blick für notwendige Hilfen. Hauptamtliche Fachkräfte kommen dazu. Es entstehen Beratungsstellen, Kinderschutz-Zentren und der Elternkurs Starke Eltern – Starke Kinderwird etabliert. Qualifiziertes Ehrenamt und Hauptamt arbeiten Hand in Hand. 
Die Arbeit des Kinderschutzbundes wird politischer. 1983 verabschiedet der Kinderschutzbund den an die Öffentlichkeit gerichteten Appell „Gebt Kindern Zukunft“. In seiner Lobbyarbeit spricht der Kinderschutzbund auch Tabus wie das Thema sexuelle Gewalt an. Der erste große Fachkongress in Deutschland zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern wird 1989 von dem Kinderschutz-Zentrum des Kinderschutzbundes in Kiel veranstaltet. 
Und es gibt in diesem Jahrzehnt einen internationalen Meilenstein: 1989 wird die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet, 1992 tritt sie in Deutschland in Kraft.

Foto: DKSB LV SH / Oke Jens

1990er: Lobby für Kinder

Die Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes wird als Vereinszweck in die Satzung aufgenommen. Der Verband fordert, Kinderrechte in das Grundgesetz und die Länderverfassungen aufzunehmen und gründet mit anderen Verbänden das Aktionsbündnis Kinderrechte, das 2007 die Kampagne „Kinderrechte ins Grundgesetz“ startet.

Foto: iStock/Rawpixel

Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 beginnt in den fünf neuen Bundesländern die Gründung von Orts -und Landesverbänden. Es entstehen bereits in den ersten fünf Jahren 32 Ortsverbände, die sich für Kinder und den Kinderschutz engagieren. 
Zum Weltkindertag 1993 zieht der Kinderschutzbund unter dem Titel „Reiches Land – arme Kinder“ eine düstere Bilanz: Kinderarmut ist ein Schwerpunktthema – in der Lobbyarbeit sowie in der praktischen Hilfe vor Ort. Auch der Zehnte Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung zeigt eine deutlich wachsende Kinderarmut in Deutschland. Die damalige Bundesfamilienministerin Nolte stellt die alarmierenden Armutszahlen in Abrede. Dies löst deutschlandweit und darüber hinaus eine riesige Diskussion um die soziale Sicherung von Kindern aus.  


2000er: Recht auf gewaltfreie Erziehung

25 Jahre nach der ersten Forderung durch den Kinderschutzbund erhalten Kinder 2000 das Recht auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB). Um diese rechtliche Verankerung der gewaltfreien Erziehung durchzusetzen, engagiert sich der Kinderschutzbund in hohem Maße: Vor Ort, in den Ländern und auf der Bundesebene bei Anhörungen im Bundestag. Heute fast unvorstellbar wurde selbst in der Anhörung zum Gesetzentwurf von Pädagog*innen noch geäußert, sie hielten es für bedenklich, auf Gewalt in der Erziehung gänzlich zu verzichten; aus der Sicht einer der angehörten Pädagogen müsse „ein Kind lernen, auch mit Demütigungen umzugehen“. 
Der Kinderschutzbund begleitet die Umsetzung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung mit Kampagnen und Aktionen– z.T. bundes- oder landesweit und mit regionalen Veranstaltungen vor Ort. 
Auch Kinderarmut bleibt weiter Thema: Auf der Mitgliederversammlung 2004 wird die Resolution „Kinder in Armut“ verabschiedet. Mit Forderungen nach mehr finanzieller Sicherheit für Familien, mehr Qualität der Bildung und Betreuung in Kitas, mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und mehr Prävention zur Kindergesundheit. Der Bundesverband schließt sich mit anderen Verbänden 2009 zum Bündnis Kindergrundsicherung zusammen, um politisch seiner Forderung nach einer unabhängigen Existenzsicherung für Kinder mehr Nachdruck zu verleihen.


2010er: Kinderrechte in Landesverfassungen

Die Forderung des Kinderschutzbundes, die Kinderrechte in Landesverfassungen zu verankern, wird in weiteren Bundesländern, unter anderem in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin und Schleswig-Holstein, umgesetzt. Allerdings ohne die Beteiligungsrechte von Kindern aufzunehmen. 
Der Kinderschutzbund reagiert und wirbt mit Kampagnen wie „Auch Kinder haben Rechte“ und „Kinderrechte umsetzen – kinderleicht“ öffentlich stärker für die Beteiligung von Kindern. Kinderrechte werden im Alltag sichtbar: Bundesweit entstehen Plätze der Kinderrechte.
Der politische Widerstand gegen Beteiligung von jungen Menschen beginnt zu wanken. Das Thema nimmt endlich gesellschaftlich Fahrt auf. 2020 gelingt es in Hessen und 2021 in Bremen, umfassende Beteiligungsrechte für Kinder in der Verfassung zu garantieren.


2020er: Krise als Herausforderung

Die 20er Jahre beginnen mit einer Krise – der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine. Vor allem Kinder und ihre Familien sind die Leidtragenden.
Auch der Kinderschutzbund ist gefordert und hilft schnell und unkompliziert – zuweilen auch unkonventionell. Die Kitas, Kinderhäuser und Kinderschutz-Zentren tun alles dafür, damit der Kontakt zu Kindern und Familien nicht abreißt. 
Die Situation vieler Kinder in der Pandemie ist dramatisch – insbesondere derjenigen, die ohnehin schon benachteiligt sind. Und hier geht es nicht nur um mit Flatterband abgesperrte Spielplätze: Das Recht auf gewaltfreie Erziehung wird auf eine harte Probe gestellt. Armut steigt. Es gibt Rückschritte in der Bildungsgerechtigkeit. Beteiligung findet zunächst praktisch gar nicht mehr statt.
Und dann scheitert ausgerechnet in dieser Zeit 2021 die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz – ein harter Schlag für alle Kinder in Deutschland und ein fatales Signal.
Jetzt stehen wir vor der historischen Chance, dass die Bundesregierung eine für alle Kinder sozial gerechte Kindergrundsicherung auf den Weg bringen kann.
Eines hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht geändert: Der Kinderschutzbund ist ein lebendiger und heute großer Verband, nicht immer bequem, aber durchsetzungsfähig – mit lauter Stimme für Kinder. „Gewalt gegen Kinder“, „Kinderarmut“, „Kinderrechte und Beteiligung“ – um etwas politisch und gesellschaftlich durchzusetzen, braucht es gute Argumente und einen langen Atem. Beides haben wir. 


Ausgabe 23-2

Schwerpunkt

Neue Herausforderungen im Kinderschutz

Politik und Praxis

Kinder- und Jugendpolitik

Kinderschutz vor Ort

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