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Schwerpunkt

Ganztag als Lebensort

Im Oktober 2021 trat das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) in Kraft. Es garantiert Kindern im Grundschulalter ab dem Schuljahr 2026/2027 einen Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung – zunächst für Erstklässler, bis zu acht Stunden täglich. Während einige Bundesländer noch mit der Umsetzung ringen, bieten andere schon längst flächendeckend Ganztagsangebote an. In Berlin sind seit 2005 alle Grundschulen Ganztagsschulen. So auch die Erika-Mann-Grundschule, die in einem sozialen Brennpunkt in Berlin-Wedding liegt. Gemeinsam mit dem Kinderschutzbund Landesverband Berlin als Träger erarbeitete sie damals, wie eine gute Ganztagsschule funktionieren kann.

Ein neues Schulkonzept entsteht

Im August 2005 startete an der ErikMann-Grundschule mit sechs Erzieher*innen und 35 Kindern die „ergänzende Förderung und Betreuung (eFÖB)“. Das entsprach gerade einmal 5,5 Prozent der Schülerschaft. Heute nehmen rund 460 Kinder teil, das sind 96 Prozent der Klassen eins bis vier und 70 Prozent der Klassen fünf bis sechs. In Berlin ist die ganztägige Bildung und Betreuung für die ersten drei Klassenstufen kostenfrei, genauso wie das Mittagessen. Ab Klassenstufe vier wird ein einkommensbezogener Elternbeitrag für die Betreuung erhoben.

Die Umstellung auf den Ganztag bedeutete für die Schule eine grundlegende Neuausrichtung. „Das begann schon sprachlich“, erinnert sich Mike Menke, pädagogischer Leiter der Ganztagsbetreuung. „Das Lehrerzimmer wurde zum Pädagog*innen-Arbeitsraum und Schulschluss um 12 Uhr gibt es nicht mehr. Jetzt heißt es Unterrichtsschluss. Die Schule endet erst um 18 Uhr.“

Die Erika-Mann-Grundschule und der Kinderschutzbund Landesverband Berlin entwickelten gemeinsam und professionsübergreifend ein inklusives Bildungsprogramm, das formale und non-formale Bildung verbindet.  Neben dem Unterricht spielen freiwillige, interessengeleitete Angebote ein zentrale Rolle. „Unsere Schule ist ein Lernort, ein Lebensort und ein Beziehungsort zugleich“, sagt Mike Menke.

Vielfalt als Chance

Heute arbeiten 69 Lehrer*innen, 54 Erzieher*innen, vier Sozialpädagog*innen und fünf Schulhelfer*innen an der Umsetzung des inklusiven Konzeptes, das alle Kinder willkommen heißt. Die Schule sieht die Herausforderungen ihres Einzugsgebietes – hohe Mehrsprachigkeit, viele Kinder aus Familien, die Transferleistungen beziehen, oder mit Integrationsstatus – nicht als Hindernis, sondern als Chance. „Das ist nicht einfach und wir stoßen immer wieder an Grenzen, die es zu überwinden gilt“, erzählt Mike Menke: „Aber wir suchen ständig nach Lösungen und Möglichkeiten. Die Arbeit bei uns ist anspruchsvoll und belastend. Sie verlangt von allen ein hohes Maß an Engagement.“

Kunst und Kultur im Fokus

Die Erika-Mann-Grundschule ist eine theaterbetonte Schule. Theater, Tanz, Musik und Kunst sind verbindliche Unterrichtsfächer und auch Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag. Einmal im Jahr findet als Abschluss und Höhepunkt des Schuljahres ein Tanz- und Theaterfestival statt, bei dem die Kinder selbst entwickelte Stücke aufführen. Auch Musik spielt eine zentrale Rolle: Als zertifizierte „Musikalische Grundschule“ ermöglicht sie Kindern unabhängig von Herkunft oder Bildungshintergrund positive Lernerfahrungen. „Theater, Tanz, Musik und Kunst sind bei uns Schlüsselkompetenzen“, sagt Mike Menke. „Sie fördern die aktive Teilnahme am Unterricht und an der Ganztagsbetreuung. “

Ganztagsausbau in Deutschland kommt voran

Rund 1,8 Millionen Grundschulkinder nutzen derzeit ein Ganztagsangebot oder einen Hort – 130.000 mehr als im Jahr 2023. Auch die Zahl der Ganztagsgrundschulen wächst: 73 Prozent aller Grundschulen arbeiten inzwischen ganztägig. Dennoch reicht das Angebot an Bildung und Betreuung für Grundschulkinder in Deutschland nicht aus. Besonders in den westdeutschen Flächenländern besteht großer Nachholbedarf. In Ostdeutschland fällt der Bedarf aufgrund der bereits vorhandenen Bildungs- und Betreuungsangebote deutlich geringer aus.

Foto: Yana Tatevosian/istock

Ein durchdachter Tagesablauf

Der Unterricht und die ergänzende Förderung und Betreuung sind an der Erika-Mann-Grundschule eng verzahnt. Die Erzieher*innen des Kinderschutzbundes sind hauptsächlich vor und nach dem Unterricht für die Kinder zuständig. „Wir begleiten aber auch den Unterricht und gestalten in den Pausen die bewegten und ruhigen Angebote für alle Kinder“, berichtet Mike Menke. Zwei Lehrkräfte und ein*e Bezugserzieher*in bilden jeweils ein Klassenteam. Alle Erzieher*innen arbeiten mindestens sechs Unterrichtsstunden wöchentlich in den Klassen „ihrer“ Kinder mit. „Sehr häufig sind die Stärken, die Bedürfnisse und/oder die Probleme eines Kindes in einem Bereich den Pädagog*innen des anderen Bereiches gar nicht bewusst. Der Austausch ermöglicht es, Kinder ganzheitlich wahrzunehmen“, so Mike Menke.

Der Tag beginnt für einige Kinder bereits um 6 Uhr mit der Frühbetreuung. Ab 8 Uhr erledigen alle Kinder ihre Schulaufgaben – Hausaufgaben am Nachmittag gibt es nicht mehr. Stattdessen bekommt jedes Kind individuelle Übungsaufgaben, die morgens vor dem Unterricht bearbeitet werden. Die Kinder werden dabei von den Lehrer*innen, vom eFöB-Team, aber auch von Eltern betreut. „Die Eltern sind eingeladen, ihre Kinder zu unterstützen und nehmen dies absolut wahr“, sagt Mike Menke. „Das stärkt ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Eltern und macht ihnen ihre Verantwortung für eine an den Fähigkeiten und Interessen orientierte Schullaufbahn ihres Kindes bewusst.“ 

Durch die Beteiligung der Eltern am Morgen, aber auch durch Begrüßungs- und jährliche Lernberatungsgespräche, gibt es zu den meisten Eltern einen sehr engen Kontakt. Dadurch sind auch Probleme einfacher zu klären. 

Zwischen den Lernzeiten finden immer wieder Pausen statt. Dann dürfen die Kinder nicht nur auf den Höfen spielen, sondern auch an verschiedenen pädagogisch betreuten Pausenangeboten in der Bibliothek, dem Werkraum oder dem Puzzleclub teilnehmen. Mike Menke bemerkt: „Wir erleben die Kinder in verschiedenen Situationen am Tag. Das fördert den Kontakt.“

Der Rechtsanspruch kommt

Mit dem Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung im Grundschulalter sollen alle Kinder bessere Bildungschancen erhalten, soziale Ungleichheiten verringert werden und Eltern Beruf und Familie leichter vereinbaren können. Ab August 2026 gilt das Recht zunächst für Erstklässler. Jedes Jahr kommt eine weitere Klassenstufe hinzu, bis ab August 2029 für alle Grundschulkinder der Klassen eins bis vier der Ganztagesanspruch greift. Ganztag bedeutet: Betreuung an allen Werktagen für acht Stunden. Die Länder dürfen bis zu vier Wochen Schließzeit pro Jahr in den Schulferien festlegen. In den übrigen Ferien bleibt die ganztägige Betreuung gewährleistet. 

Eigenverantwortung und Mitbestimmung 

In den unterschiedlichen Ganztagsbereichen bekommen die Kindern vielfältige Möglichkeiten, sich zu entwickeln, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen und daran zu arbeiten. Die Schule wird als Lernort gesehen, an dem es nicht nur um Leistung geht. Sie ist vielmehr ein Ort der Möglichkeiten, verlässlicher Beziehungsebenen, des Vertrauens, des Erfolgs und des Spaßes. 

Die Schule legt großen Wert auf Mitbestimmung. Kinder entscheiden selbst, an welchen Arbeitsgemeinschaften sie teilnehmen – von Kochen über Ukulele-Spielen bis Klettern. Eltern haben dabei kein Mitspracherecht. „Kinder sollen spüren: Meine Meinung zählt, ich gestalte mit“, erklärt Mike Menke. Strukturen wie Klassenräte, das Schülerparlament, die Schulkonferenz oder die Essenskommission fördern diese Haltung.

Foto: skynesher/istock

Teamarbeit als Schlüssel

Ein funktionierender Ganztag erfordert eine zuverlässige und intensive Kommunikation im Team. Die Pädagog*innen müssen an verschiedenen Gremien der Schule regelmäßig verbindlich teilnehmen. Dazu gehören wöchentliche Sitzungen der Klassenteams, bestehend aus Lehrer*innen, Erzieher*innen und Schulhelfer*innen, sowie die Inklusionsrunde, Treffen der Schul- mit der eFöB-Leitung oder 14-tägige Beratungen mit der erweiterten Schulleitung. 

Um erfolgreich zusammenzuarbeiten, ist es unerlässlich, dass alle Professionen gleichberechtigt sind. „Erzieher*innen brauchen für die Vor- und Nachbereitung ihrer Angebote und die Einbindung in schulische Strukturen mindestens 25 Prozent ihrer wöchentlichen Arbeitszeit“, betont Mike Menke.

Auch beim Thema Kinderschutz ist Teamarbeit entscheidend: „Für Erzieher*innen des Kinderschutzbundes Berlin gibt es verbindliche Fortbildungen zum Thema ‚Kinderschutzgefährdung‘ und ‚Gewalt durch ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter*innen‘. Potenzielle Kinderschutzfälle werden über die klassenbezogenen Miniteams aus Erzieher*innen und Lehrer*innen, gemeinsam mit den Sozialpädagog*innen der Schulstation, der eFöB-Leitung und der Beratungsstelle des DKSB beobachtet, dokumentiert und bearbeitet“, erklärt Mike Menke. 

Auf ein gutes Miteinander mit den Eltern wird viel Wert gelegt. Diese unterstützen jährlich bei Veranstaltungen wie dem Schulfest, dem Sponsorenlauf, dem Gruselfest, dem Vorlesetag oder dem winterlichen Hüttenzauber im Dezember. 

Krisen meistern

Wie gut die Zusammenarbeit im Team funktioniert, zeigte sich im September 2023, als ein Brand große Teile der Schule unbenutzbar machte.  „Wir haben die Turnhallen, die Mensen und einen Großteil der pädagogischen Nutzfläche für den eFöB-Bereich verloren“, berichtet Mike Menke. „Dies bedeutete eine komplette räumliche und teilweise zeitliche Neuorganisation der gesamten Tagesstruktur und ist mit zahlreichen Einschränkungen verbunden. Nur durch das Engagement aller Pädagog*innen konnten wir den Kindern trotz aller Widrigkeiten weiterhin eine gute Betreuung bieten.“

Ganztag lohnt sich

Ein guter Ganztag orientiert sich an den Bedürfnissen der Kinder. Ziel ist es, jedes Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und seine Kompetenzen zu fördern. „Die Teilnahme darf nicht vom Einkommen der Eltern abhängen“, fordert Mike Menke. „Jede Schule muss Bildung neu denken und die verschiedenen Bereiche sinnvoll verbinden.“ Trotz aller Herausforderungen ist Mike Menke überzeugt: „Eine kindgerechte Ganztagsbetreuung verbessert die Chancen der Kinder, Schule als Ort des Wohlfühlens und Erfolges zu erleben.“

Mike Menke im Büro der ergänzenden Förderung und Betreuung. | Foto: LV Berlin

Kontakt

Für Fragen zur Umsetzung des Ganztageskonzeptes an der Erika-Mann-Grundschule in Berlin steht Mike Menke gerne zur Verfügung. 

Telefon: 030 450 855 30
E-Mail: m.menke@kinderschutzbund-berlin.de


Ausgabe 25-1

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