Mehrsprachig in Kita und Schule

Weltweit ist Mehrsprachigkeit die Regel, nicht die Ausnahme. Auch in Deutschland wachsen viele Kinder mehrsprachig auf. Dr. Till Woerfel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache in Köln, forscht zu sprachlicher Bildung, Mehrsprachigkeit und Digitalität und klärt über Mythen und Fakten auf.
Was ist mit Mehrsprachigkeit gemeint?
TILL WOERFEL: Laut Definition der Europäischen Kommission sprechen wir von individueller Mehrsprachigkeit, wenn jemand, in mehr als einer Sprache kommunizieren kann. Das kann ausschließlich mündlich sein oder den schriftlichen Ausdruck miteinschließen. Auch wer einsprachig aufwächst und in der Schule eine Fremdsprache lernt, ist mehrsprachig.
Wie können Eltern mehrsprachige Kinder fördern?
TILL WOERFEL: Eltern sollten mit ihren Kindern die Sprachen sprechen, in denen sie sich am sichersten fühlen und die für die soziale Interaktion des Kindes wichtig sind. In diesen Sprachen drückt man auch seine Emotionen aus. Manche Eltern sprechen irrtümlich Deutsch statt ihrer Herkunftssprache mit ihren Kindern, um dadurch den schulischen Erfolg der Kinder zu verbessern. Andere sprechen bewusst eine Fremdsprache zuhause, weil sie lange im Ausland gelebt haben und möchten, dass ihr Kind diese Sprache früh lernt.
Es ist günstig, festzulegen, welches Elternteil in welcher Sprache mit dem Kind spricht und dies beizubehalten. Da Deutsch als Umgebungssprache ohnehin dominant ist, kann es eine Strategie sein, dass beide Elternteile die Herkunftssprache sprechen, um das sprachliche Angebot zu erhöhen. Das verbessert die Chance, dass das Kind diese Sprache später aktiv spricht.
Eltern sollten ihren Kindern ein breites sprachliches Angebot machen. In mehrsprachigen Familien ist es Realität, zwei oder drei Sprachen zu verwenden. Es ist förderlich, außerfamiliäre Bildungsangebote zu besuchen, wie zum Beispiel eine bilinguale Lesung in der Stadtbücherei oder einen Kinofilm in der Herkunftssprache anzusehen.
Überfordert es Kinder, mehrere Sprachen auf einmal zu lernen?
TILL WOERFEL: Nein, das ist nicht so. Gerade in der frühen Kindheit ist es einfacher Sprachen zu lernen als im Erwachsenenalter. Die sprachwissenschaftliche Forschung belegt, dass die Annahme, mehrsprachige Kinder würden keine Sprache richtig lernen, nicht haltbar ist.
Wenn Kinder zwei Sprachen gleichzeitig lernen, entwickeln sich die Sprachen unterschiedlich. Oft gibt es eine sprachliche Verzögerung im Vergleich zu einsprachigen Kindern, weil sie den Wortschatz doppelt aufbauen müssen. Das ist in der Regel unproblematisch. Spracherwerb ist individuell, und zwei oder drei Sprachen auf einmal zu lernen, dauert länger als eine.
Der Lernerfolg hängt vom Zeitpunkt des Spracherwerbs und der Quantität und Qualität des Sprachangebotes ab. Damit ist zum Beispiel gemeint, wie viele unterschiedliche Wörter die Eltern benutzen und ob die Satzstrukturen einfach oder komplex sind. Der Bildungshintergrund der Eltern spielt eine große Rolle.
Was steckt dahinter, wenn Kinder Sprachen mischen?
TILL WOERFEL: Das ist ein natürliches Phänomen, das in der Forschung „Code-Switching“ oder „Code-Mixing“ genannt wird. Es ist ein Mythos, dass dies mangelnde Sprachkompetenz zeige. „Code-Switching“ passiert nicht willkürlich und ist komplexer, als sich nur ein Wort aus einer anderen Sprache zu leihen. Dabei werden Wörter aus einer Sprache in die andere eingebettet oder Sprachen an einer bestimmten Stelle im Satz gewechselt. Stefan Schneider nennt in seinem Buch „Bilingualer Erstspracherwerb“ ein Beispiel: Ein italienisch-deutsch bilingual aufwachsendes Kind sagt in einer Spielsituation: „Mama hat gevinct.“ Es übernimmt den Verbstamm aus dem Italienischen und integriert ihn in die deutsche Vergangenheitsform. Das zeigt eine hohe grammatikalische Kompetenz in beiden Sprachen. „Code-Switching“ passiert nur in Situationen, in denen beide Sprecher*innen die Sprachen auch verstehen.
Kann Mehrsprachigkeit eine Sprachentwicklungsstörung verursachen?
TILL WOERFEL: Nein. Ob ein Kind ein- oder mehrsprachig aufwächst, hat nichts mit einer Prädisposition für eine Sprachentwicklungsstörung zu tun. Früher wurden viele mehrsprachig aufwachsende Kinder, die in der Entwicklung zeitlich verzögert waren, an eine logopädische Praxis verwiesen. Heute sind Kinderärzt*innen und pädagogische Fachkräfte stärker sensibilisiert. Bei einer Sprachentwicklungsstörung ist die Spracherwerbsfähigkeit aller Sprachen betroffen. Das muss mit normierten Testverfahren von Logopäd*innen diagnostiziert werden. Pädagogische Fachkräfte sollten wissen, welche Sprachfähigkeiten von Kindern unter welchen Erwerbsbedingungen erwartbar sind und mit Warnsignalen vertraut sein. Im Idealfall kooperieren Kitas mit Logopäd*innen, um in bekannter Umgebung eine zuverlässige Diagnostik und Förderung zu ermöglichen.
Welche Vorteile haben Kinder, die mehrsprachig aufwachsen?
TILL WOERFEL: Es ist vorteilhaft, in mehr als einer Sprache kommunizieren zu können. Das ermöglicht Teilhabe in der globalisierten Welt und ist oft eine berufliche Voraussetzung. Die europäische Sprachenpolitik gibt vor, dass alle Menschen in drei Sprachen kommunizieren sollten – in der Landessprache, einer europäischen Sprache und einer dritten Sprache, die auch eine nichteuropäische Herkunftssprache sein kann.
Für jedes Kind ist es ein Vorteil, wenn es mit Familienangehörigen, die nicht in Deutschland leben, sprechen kann. Die Sprache aufrechtzuerhalten ist wichtig, damit Enkelkinder mit den Großeltern kommunizieren können.
Mehrsprachige Kinder lernen weitere Fremdsprachen leichter, da sie ihr Sprachwissen und ihre Sprachlernerfahrungen nutzen können.
Wie können pädagogische Fachkräfte mehrsprachige Kinder und Jugendliche fördern?
TILL WOERFEL: Fachkräfte können Lerngelegenheiten so gestalten, dass Herkunftssprachen einbezogen werden, ohne diese Sprachen zwingend zu sprechen. In der Kita oder Grundschule lassen sich zum Beispiel im Morgenkreis oder bei der Begrüßung Gegenstände in den verschiedenen Familiensprachen benennen.
Dialogisches Lesen in mehreren Sprachen ist ebenfalls sinnvoll. Dafür können auch Eltern oder Großeltern einbezogen werden. Mehrsprachige Vorlesefunktionen von Tablets oder E-Books können ebenso eingesetzt werden. Ein offenes Klima für das Thema wirkt sich positiv auf die Förderung der Mehrsprachigkeit aus.
In der Schule können Lernaufgaben mehrsprachig gestaltet werden: Wenn Schüler*innen bei einer Gruppenarbeit zum Klimaschutz recherchieren, können sie ihre Herkunftssprache nutzen und Berichte in verschiedenen Sprachen und aus länderübergreifender Perspektive anfertigen. Solche Lernergebnisse könnten digital gestaltet und auf der Schulhomepage veröffentlicht werden. Das macht viele Sprachen sichtbar und motiviert Kinder.
Wie lassen sich die Herkunftssprachen in der Schule fördern?
TILL WOERFEL: Kinder sprechen ihre Familiensprachen oft mündlich sehr gut, aber aufgrund fehlender Bildungsangebote sind ihre schriftlichen Kompetenzen und ihr Wortschatz in schulischen Fachthemen weniger entwickelt. Der Satz des Pythagoras ist in der Regel kein Thema, über das man im familiären Alltag spricht – auch nicht im Deutschen. Daher fällt es Kindern manchmal schwer, die Herkunftssprache im Unterricht zu nutzen. Das kann durch den sogenannten Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU), der in einigen Bundesländern staatlich organisiert ist, gefördert werden. Eltern sollten von der Schule oder öffentlichen Einrichtungen darauf hingewiesen werden, wenn ein solches Angebot existiert. Denn Eltern ist es nicht immer bewusst, dass es ein Vorteil für ihr Kind sein kann, mehrsprachig aufzuwachsen. Elternarbeit ist sehr wichtig, um mehrsprachige Kompetenzen zu fördern.
Mit Blick auf die wenigen bilingualen Modelle, die derzeit an deutschen Schulen angeboten werden, ist der HSU ein wichtiges Instrument. Ideal wäre es, wenn der HSU inhaltlich mit dem Regelunterricht verzahnt wäre. Wenn die Kinder im Deutschunterricht eine Erörterung behandeln, wäre es gut, dies parallel auch im HSU Türkisch oder Russisch zu lernen. So kann kontrastiv gearbeitet werden, wenn es kulturelle Unterschiede in der Struktur einer Textsorte gibt. Dafür muss der HSU didaktisch gleichwertig sein und die Lehrkräfte entsprechend ausgebildet. Das ist in Deutschland noch ausbaufähig.
Interview: Johanna Kern, redaktionelle Leitung der Verbandszeitschrift,
Kinderschutzbund Bundesverband
Weitere Informationen:
Faktencheck: Mehrsprachigkeit in Kita und Schule.
Woerfel, Till (2022). Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache.
Der Faktencheck ist auch in türkischer Sprache publiziert:
Okul Öncesi Eğitimde ve Okullarda Çok Dillili.
Woerfel, Till (2023). Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung
und Deutsch als Zweitsprache.