
Kindeswille gestärkt
Wenn Kinder getrennter Eltern keinen Kontakt mehr zu einem Elternteil haben möchten, ist das ihr Recht. Das Bundesverfassungsgericht stuft das umstrittene Eltern-Kind-Entfremdungskonzept als wissenschaftlich widerlegt ein.
Bei hochstrittigen Sorge- und Umgangsrechtsverfahren haben Familiengerichte in den vergangenen Jahren häufig das Eltern-Kind-Entfremdungskonzept (Parental-Alienation-Syndrom, kurz PAS) berücksichtigt. Dabei wirft man einem Elternteil, meist der Mutter, vor, das Kind durch Manipulation systematisch vom Vater zu entfremden, sodass das Kind keinen Kontakt mehr zum Vater wünscht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dieses Konzept in seinem Urteil vom 17. 11. 2023 als überholt und wissenschaftlich widerlegt eingestuft (BVerfG – 1 BvR 1076/23).
In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion erklärte nun auch das Bundesjustizministerium: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass sich die Familiengerichte an dieser Entscheidung des BVerfG orientieren werden. “
Zum Sachverhalt der zitierten Entscheidung: Seit ihrer Trennung 2020 stritten die Eltern zweier Kinder, die zum Zeitpunkt des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zwölf und sieben Jahre alt waren. Mehrere Verfahren zum Aufenthaltsbestimmungs- und Umgangsrecht waren anhängig. Der Vater behauptete, die Mutter leide an psychischen Problemen und entfremde ihm die Kinder. Die Mutter warf dem Vater Drogenmissbrauch und Gewalttätigkeit vor.
Seit Oktober 2020 äußerten die Kinder durchgehend, dass sie bei der Mutter leben wollen. Anfangs wünschten sie noch Umgang mit dem Vater. Seit September 2022 kam dann kein Umgang mehr zustande, weil die Kinder keinen Kontakt mehr zum Vater wollten. Deshalb strengte der Vater ein weiteres Verfahren an, um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder zu erhalten.
Während der Kindesanhörungen sprachen sich beide Kinder dafür aus, bei der Mutter zu leben. Eine Umgangspflegerin berichtete, die Kinder wollten keinen Kontakt mehr zum Vater. Der Verfahrensbeistand der Kinder empfahl, das Aufenthaltsbestimmungsrecht bei der Mutter zu belassen. Das Familiengericht entschied entsprechend.
Im anschließenden durch den Vater angestrengten Beschwerdeverfahren übertrug das Oberlandesgericht dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Trotz der ablehnenden Haltung der Kinder sah das Oberlandesgericht das Kindeswohl am besten gewahrt, wenn der Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht innehabe, um eine weitere Entfremdung zu verhindern.
Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf. Der Senat kritisierte, dass das Oberlandesgericht die Sachverständigengutachten und die Einschätzung des Verfahrensbeistandes unbeachtet ließ und die Wünsche der Kinder zwar hörte, aber nicht ernsthaft berücksichtigte. Außerdem stützte das Oberlandesgericht seine Entscheidung auf die befürchtete, aber wissenschaftlich eben unbelegte Eltern-Kind-Entfremdung.
Das Bundesverfassungsgericht lehnt das Parental Alienation Syndrom als empirisch nicht belegt ab. Nach aktuellem wissenschaftlichen Stand gibt es keinen Beleg für elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils, so der Senat. Ebenso wenig sei belegt, dass die Herausnahme des Kindes aus dem Umfeld des angeblich manipulierenden Elternteils eine Annäherung an den anderen Elternteil gewährleiste. Der mehrfach und stabil geäußerte Wunsch, bei der Mutter leben zu wollen, ist zu beachten.
Beate Naake, Bundesvorstand Kinderschutzbund