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Kinder- und Jugendpolitik

Junge Menschen hören

Statt Fridays for Future jetzt „Ausländer raus“? Sebastian Sedlmayr ist Leiter Advocacy und Politik bei Unicef Deutschland. Er fordert eine Reform des Bildungssystems, um Kinder und Jugendliche früher und stärker einzubeziehen. Er stützt sich dabei vor allem auf drei Argumente.

Tickt die Jugend in Deutschland plötzlich rechtsextrem? Studien privater Forschungsinstitute haben in den vergangenen Wochen ein solches Bild gezeichnet. Videos von Partys auf Sylt und an anderen Orten in Deutschland mit menschenfeindlichen Gesängen tragen zu dem Eindruck bei, junge Menschen wendeten sich ab vom gesellschaftlich-politischen Konsens von Demokratie und Menschenrechten. Von einer offenen Gesellschaft, in der die Herkunft zweitrangig ist. Und das zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr.

Die aktuelle Debatte übersieht drei wesentliche Punkte: Erstens steht auch heute die Mehrheit junger Menschen zur Demokratie. Zweitens sollten die Themen, die junge Menschen bewegen und für die sie Antworten von der Politik erwarten, viel stärker in den Vordergrund rücken, wenn Demokratieverdrossenheit nicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden soll. Wenn Menschen sich mit ihren Anliegen nicht gesehen fühlen, wenden sie sich ab. Drittens beginnt das Erlernen eines demokratischen Miteinanders lange vor dem Wahlakt, selbst wenn das Mindestalter für die Wahl zum Europäischen Parlament in Deutschland auf 16 Jahre gesenkt wurde. Und auch Demokratie findet nicht nur an der Urne und nicht nur in Parteien oder staatlichen Zusammenhängen statt.

Was will die Jugend?

Die wichtigeren Fragen lauten deshalb: Was treibt Kinder und Jugendliche um? Was können wir tun, damit ihre Themen und ihre Perspektiven gehört, ernst genommen und priorisiert werden? Denn nur, indem Menschen erleben, dass sie eine Stimme haben und Veränderungen herbeiführen können, behalten sie auf Dauer das Vertrauen in die Demokratie.

Welche konkreten Themen für Kinder und Jugendliche bei der Europawahl im Vordergrund standen, wissen wir leider nicht genau. Denn im Gegensatz zu den ausgefeilten Umfragen unter Wahlberechtigten erfahren wir vor Wahlen kaum etwas über Einstellungen und Themenpräferenzen in der Altersgruppe unter 16 Jahren. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, sich einer Antwort zu nähern.

Zum einen über die Fakten zu der Welt, in der Kinder in der EU aufwachsen. 20 Millionen Kinder – jedes vierte Kind – in den Ländern der Europäischen Union sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Mehr als elf Millionen Kinder und Jugendliche in der EU leiden an einer psychischen Erkrankung. 85.000 Menschen in 16 EU-Ländern haben allein im Jahr 2022 ihre Häuser und Wohnungen aufgrund von Unwetterkatastrophen verloren, darunter Tausende von Kindern. Unter den befragten 12- bis 16-Jährigen wurden 13 Prozent laut einer im vergangenen Jahr durchgeführten Befragung mehrfach Opfer sexueller Anmache bzw. Ziel sexualisierter Inhalte im Internet.

Bedürfnisse antizipieren

Über objektive Fakten hinaus muss eine Politik für Kinder und Jugendliche antizipieren, was junge Menschen bewegt. Anfang dieses Jahres hat Unicef gemeinsam mit Partnerorganisationen und einem zehnköpfigen Jugendbeirat die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, an der sich EU-weit rund 9.000 Kinder und Jugendliche beteiligt hatten. Das Ergebnis ist nicht repräsentativ, aber als Hinweis dienlich. Die größten Probleme sind demnach: ein veraltetes, wenig auf Kinder ausgerichtetes Bildungssystem, die weit verbreitete Krise der psychischen Gesundheit von Jugendlichen, Mobbing, kaum Beteiligungsmöglichkeiten an politischen und gesellschaftlichen Debatten und schließlich die seit Jahren versprochene, bisher aber ausgebliebene massive Offensive gegen den Klimawandel.

Die Themen junger Menschen gehören auf die politische Agenda. Denn wie sollen sich junge Menschen politisch repräsentiert fühlen, wenn ihre Anliegen kaum Beachtung finden? Und: Politik muss sich erklären. Antworten so zu geben, dass junge Menschen sie verstehen, ist eine Aufgabe, die mit schwindender Zustimmung zu demokratischer Problemlösung immer dringender wird.

Demokratie früh üben

Eine weitere Aufgabe besteht darin, das Verständnis für Demokratie und ihre unschlagbaren Vorzüge für ein friedliches Miteinander schon sehr früh einzuüben – in der Kita, in der Schule, in Einrichtungen und an Orten, die Kinder und Jugendliche frequentieren. Ja, politische Bildung gehört schon in die Kita. Das bedeutet nicht, dass dort das Grundgesetz ausliegt oder ein Plakat der UN-Kinderrechtskonvention hängt, das kein Kind lesen kann. Demokratiepädagogik bedeutet, dass schon die Jüngsten erleben und verstehen, dass andere ihre Meinung oder ihren Willen ernst nehmen, dass alle einander respektvoll behandeln, dass Gewalt inakzeptabel ist, dass Regeln für alle gelten.

Später, in der Schule, verbinden sich diese grundlegenden Fähigkeiten mit den abstrakten Formeln eines politischen Systems. Dafür braucht es allerdings – für Deutschland gesprochen – einen Ruck durch die Kultusministerien der Länder. Denn das aktuelle Angebot von durchschnittlich weniger als eine Stunde Politikunterricht pro Woche ist eine geradezu lächerlich geringe Investition eines demokratischen Staates in seinen eigenen Erhalt. 

Reform des Bildungssystems

Die Bildungsstiftungen des Landes und 100 Organisationen, darunter auch UNICEF Deutschland, haben vor kurzem einen Reformprozess für das deutsche Bildungssystem gefordert und verweisen auf die – von allen EU-Staaten ratifizierte – UN-Kinderrechtskonvention.

Schöner als in deren Artikel 29 ist kaum zu formulieren, was auch die Kinder und Jugendlichen der oben erwähnten Befragung in der EU wünschen: Bildung muss demnach darauf gerichtet sein, „die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen“, ihm „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten“ zu vermitteln und es „auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft“ vorzubereiten.

Soweit das Ziel. Für die Kinder und Jugendlichen in Europa, auch in Deutschland, kommt es darauf an, dass die gewählten Politiker*innen ihre Selbstverpflichtung ernst nehmen.


Ausgabe 24-3

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