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Politik und Praxis

Empathie statt Macht

Ist der Satz „Dafür bist du noch zu klein!“ nur ein alltäglicher Reflex oder eine Form von Diskriminierung? Ein Blick auf die Sprache und gesellschaftliche Strukturen zeigt, dass Erwachsene bei der Erziehung oft unbewusst Macht über Kinder und Jugendliche ausüben.

Ist Ihnen der Satz auch schon herausgerutscht? Warum sagen Erwachsene so etwas manchmal? Vielleicht, um ein Kind zu schützen. Etwas kann oder soll das Kind noch nicht tun oder wissen, weil es zu jung, zu unerfahren, zu ungeschickt ist. Der Erwachsene möchte das Kind vor einem Schaden oder einem Misserfolg bewahren.

Erwachsene haben die Macht  

Aber worum geht es noch? Um erzieherische Macht. Der Erwachsene glaubt, die Situation aufgrund seines Alters und seiner Lebenserfahrung besser deuten zu können und seine Sichtweise sei wichtiger und richtiger. Er entscheidet, ob das Kind bereit ist. Er hat die Macht, das Handeln des Kindes zu erlauben, zu unterbinden oder mit Konsequenzen zu versehen. 
Das ist doch kein Problem, könnte man denken. Schließlich tragen die Erwachsenen die Verantwortung und haben mehr Lebenserfahrung. Sie brauchen ihre Macht.

Das stimmt: Wir Erwachsene haben mehr Macht, weil wir jungen Menschen körperlich, intellektuell und materiell überlegen sind. Das ist nicht per se problematisch. Das wird es aber, wenn wir die Macht unreflektiert und zum Nachteil der Kinder einsetzen. Wenn zum Beispiel ein Kind aufgefordert wird, eine Jacke anzuziehen, kann es entscheiden, ob es dies tut oder nicht. Sobald es sich dagegen entscheidet, ist ein „Machtkampf“ sehr wahrscheinlich. Der Erwachsene wird dem Kind Strafen oder Konsequenzen und den Entzug von Privilegien androhen. Hier beginnt oftmals eine destruktive Auseinandersetzung. Und wenn das Kind aus Angst vor Nachteilen nachgibt, ist ein kleinerer oder größerer Beziehungsschaden entstanden. 

Das Bild vom Kind ändert sich  

Geschichtlich gesehen verschiebt sich die Machtbalance zugunsten der Kinder. Dieser Prozess begann mit der Ratifizierung der Kinderrechte und zeigt sich im Gesetz zur gewaltfreien Erziehung und im sich verändernden Bild vom Kind. Diese Machtverschiebung verunsichert Erwachsene: Uns wird Macht genommen und wir wissen nicht, wie wir dies kompensieren sollen. Wie soll man dann Kinder erziehen? Dürfen die jetzt alles?

Der Verlust erzieherischer Macht löst Ängste aus. Ängste, dass dann alles drunter und drüber geht. Ängste vor ungezügelt umhertobenden Kindern ohne Grenzen und Beschränkungen, kleinen Tyrannen, Chaos. Und Angst davor, dass wir später egoistische, sozial unfähige, weisungsresistente Erwachsene in unserer Gesellschaft haben werden.

Kinder sind soziale Wesen  

Diese Ängste sind nachvollziehbar, aber unbegründet. Kinder sind soziale Wesen und auf positive soziale Interaktion angewiesen. Sie brauchen wertschätzende Rückmeldungen, die ihr Handeln rahmen und helfen, ihr Verhalten einzuordnen. Wir Erwachsene können unsere Macht so einsetzen, dass Kinder sich sicher und frei bewegen können. Die Grenzen ihres Handelns erfahren Kinder nach und nach. Sie dürfen Fehler machen und lernen mit unserer achtsamen Unterstützung daraus. Sie übernehmen immer mehr Verantwortung für ihr Handeln. 
Wenn wir weniger Macht einsetzen, geben wir ein Stück unserer Verantwortung an die Kinder ab, entsprechend ihrer Reife. Statt Anweisungen zu geben, verhandeln wir. Dies lernen Kinder nur, wenn sie beteiligt werden, wenn ihre Sicht erfragt und in Entscheidungsprozesse einbezogen wird.

Adultismus in der Sprache  

Zurück zu unserem Satz am Anfang: Diese Worte enthalten viel Macht. Diese Macht hat einen Namen: Adultismus. Das Wort setzt sich aus Adult („Erwachsene“) und -ismus zusammen. Man kann es mit „Erwachsenenmacht“ übersetzen. Es beschreibt eine Form der Diskriminierung.

Wer sich intensiver mit Adultismus auseinandersetzt, findet überall Indizien dafür. Zuallererst spielt der Adultismus in unserer Sprache eine große Rolle. Erwachsene verwenden Sätze, die ihre Überlegenheit dem Kind gegenüber ausdrücken. „Mach schneller, trödel nicht!“, „Du bist eine Kleckerliese!“, „Wenn Du jetzt nicht mitmachst, dann…!“. Diese Sätze beinhalten Wertungen, Drohungen und Beleidigungen und sind ein Ausdruck von Machtdifferenz. Von diesen Sätzen gibt es unendlich viele. Der Tagesablauf von Kindern ist in der Regel voll davon.

Nicht nur Kindern gegenüber sind wir adultistisch. Auch Erwachsene sagen manchmal „Du bist kindisch!“, „Was ist denn das hier für ein Kindergarten?“ zueinander. Warum diffamieren wir kindliches Verhalten so sehr?

Adultismus in der Infrastruktur  

Gehen wir auf die Straße oder in ein Restaurant. Die Welt ist für Erwachsene gebaut. Zu hohe Knöpfe im Fahrstuhl, an Ampeln, Briefkästen, Gemälde in Museen – alles schwer erreichbar oder sichtbar für Kinder. Selbst in Kindertageseinrichtungen sind Türklinken, Lichtschalter oder Aushänge unerreichbar. Zwar ist das Mobiliar mittlerweile kindgerecht gestaltet, aber die Treppenstufen sind für kleine Laufanfänger*innen dennoch zu hoch. Durch diese Infrastruktur werden Kinder künstlich klein und unselbstständig gehalten. 
Oder schauen Sie sich mal die Hausordnung in einer Schule an. Für wen gilt das Handyverbot? Gilt das auch für Erwachsene? Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Adultistische Infrastruktur ist so allgegenwärtig, dass wir sie gar nicht wahrnehmen.  

Folgen von Adultismus  

Viele Kinder wachsen in einer „adultistischen Realität“ auf. Sie übernehmen das Verhalten der Erwachsenen. Das Machtgefälle bleibt so auch in kommenden Generationen bestehen. Wichtige Kompetenzen wie Selbstwirksamkeit und Verantwortungsübernahme werden nicht ausreichend gefördert. Durch die erlebte Diskriminierung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder als Erwachsene selbst andere herabsetzen.

Adultismus ist eine Form der Diskriminierung, die sich selbst erhält – wenn wir Erwachsenen nicht beginnen, weniger auf unserer Macht zu beharren. Wir alle sind in adultistischen Strukturen aufgewachsen. Das zu erkennen, ist ein erster Schritt. Und vielleicht gelingt es dann, empathischer und weniger machtvoll mit den jungen Menschen im eigenen Umfeld umzugehen.


Ausgabe 24-3

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