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Schwerpunkt

Chance Mehrsprachigkeit

In Deutschland wachsen Millionen Kinder mehrsprachig auf, doch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit wird oft als Risikofaktor für den Bildungserfolg gesehen. In Augsburg haben die Stadtteilmütter unter der Leitung von Hamdiye Çakmak seit 20 Jahren eine einzigartige Initiative aufgebaut. Mütter aus verschiedenen Kulturen engagieren sich ehrenamtlich, um Familien bei der Sprachbildung und Erziehung zu unterstützen. Das Programm, gefördert von der Stadt Augsburg, verbessert die Bildungschancen aller Kinder und fördert die soziale Integration der Eltern.

Hamdiye Çakmak leitet seit 20 Jahren die Stadtteilmütter beim Kinderschutzbund Kreisverband Augsburg e.V.. Die Stadtteilmütter unterstützen Familien bei der Sprachbildung und in Erziehungsfragen. Träger ist der Kinderschutzbund Kreisverband Augsburg e.V. Das Programm wird von der Stadt Augsburg gefördert. 

Die Stadtteilmütter verbessern die Bildungschancen aller Augsburger Kinder und fördern die soziale Integration der Eltern, meist mit Migrationshintergrund. Sie kooperieren mit Kindertagesstätten, Familienstützpunkten, Mehrgenerationen-Treffpunkten und Schulen. Das Programm stärkt zivilgesellschaftliches Engagement und ermöglicht Partizipation.

Eltern mit gleicher Familiensprache treffen sich einmal wöchentlich für zwei Stunden und erhalten Anregungen für die Bildung ihrer Kinder. Die Anleitung erfolgt zweisprachig: in Deutsch und in der Muttersprache. In Augsburg arbeiten 72 Stadtteilmütter ehrenamtlich, die 61 Gruppen leiten. In den Gruppen werden 34 verschiedene Sprachen gesprochen, Tendenz steigend. Eine Stadtteilmutter vertritt die deutsche Sprache, eine Stadtteilmutter die gemeinsame Herkunftssprache. „Es gibt auch internationale Stadtteilmüttergruppen, die sich aus ganz verschiedenen Nationen zusammensetzen,“ berichtet Hamdiye Çakmak. „In diesem Fall ist Deutsch die gemeinsame Sprache der Eltern.“

Eltern sind Expert*innen für ihre Kinder

Empowerment und Partizipation sind erwünschte „Nebenwirkungen“ der wöchentlichen Treffen, bei denen die Eltern als Expert*innen ihrer Belange gesehen werden. Ihnen werden auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Angebote, Materialien, Fortbildungen und Informationen der Stadtgesellschaft zur Verfügung gestellt.

Die kostenfreien Gruppentreffen werden in Augsburg für drei Altersgruppen angeboten: Es gibt die zweisprachigen Gruppen „Hand in Hand“ für Eltern mit Kindern von 0-3 Jahren, Gruppen für Eltern mit Kindern in Kindertagesstätten von 3-6 Jahren und Gruppen für Eltern mit Kindern im Grundschulalter (1.-4. Klasse).

Nezaket Kadıoğlu leitet eine deutsch-türkische „Hand in Hand“-Gruppe. Dort singen die Kinder das Begrüßungs- und Abschlusslied in zwei Sprachen, üben Fingerspiele oder kneten. Nezaket Kadıoğlu ist überzeugt, dass die Kinder von den Treffen profitieren: „In der Gruppe entwickeln sich die Kinder weiter, sie lernen viel im Kontakt mit anderen Kindern und kennen dann schon Abläufe ähnlich wie in der Kita.“ 

Das Konzept kennt und schätzt Nezaket Kadıoğlu seit ihrer Kindheit. Bereits ihre Mutter war als Stadtteilmutter aktiv und auch mit ihren beiden Kindern hat sie die Gruppen als Teilnehmerin besucht: „Ganz toll finde ich, dass ich in der Gruppe auf alles eine Antwort bekomme. Die Stadtteilmütter sind gut vernetzt und jede lernt von der anderen – egal ob Teilnehmerin oder Leitung.“ „Dass Teilnehmerinnen auch Stadtteilmütter werden, passiert bei uns oft,“ berichtet Gabriela Eltayeb, Regionalkoordinatorin der Stadtteilmütter für die Region Nord/West in Augsburg. „Wir haben da eine wichtige Funktion: Viele Mütter, die nach Augsburg kommen, haben nur ihre Kernfamilie hier. Sie kennen sich noch nicht aus, haben kaum Kontakte. Bei den Stadtteilmüttern werden alle Kulturen wertgeschätzt, hier kümmern wir uns umeinander wie in einer großen Familie.“

Kinder stärken

In den Gruppen erfahren die Eltern vielfältige Möglichkeiten, ihre Kinder emotional, sozial und sprachlich zu unterstützen. Sie werden darin bestärkt, die Entwicklung ihrer Kinder in ihrer Herkunftssprache gezielt zu begleiten und zu fördern. Sie tauschen sich über Erziehungsfragen aus und entwickeln ein Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits unterschiedlicher Kulturen. Gleichzeitig kommen alltagspraktisch und wohnraumorientiert Integrationsprozesse in Gang – auf Augenhöhe von Mutter zu Mutter – von Vater zu Vater. Handlungsleitend ist das gemeinsame Interesse an einer guten Entwicklung ihrer Kinder.

Hind Muslmani leitet eine deutsch-arabische Stadtteilmüttergruppe für Eltern mit Grundschulkindern in Augsburg. Sie findet, „dass es kein Problem ist, zuhause zwei oder drei Sprachen zu sprechen. Die Kinder sind für viele Sprachen offen.“ In ihrer Gruppe wird den Müttern auf Arabisch erklärt, mit welchen Themen die Kinder sich im Heimat- und Sachkundeunterricht beschäftigen. Dann können die Kinder das, was sie in der Schule lernen mit ihren Eltern in der Familiensprache vertiefen. Die Stadtteilmütter sieht Hind Muslmani als „Brücke“ zwischen den Eltern und der Bildungseinrichtung ihrer Kinder: „Wenn die Eltern stark sind, dann sind das auch die Kinder.“

Hind Muslmani hat in Syrien erfolgreich als Ingenieurin gearbeitet. Die Tätigkeit bei den Stadtteilmüttern hat ihr berufliches Interesse am pädagogischen Bereich geweckt. Mittlerweile arbeitet sie als Ergänzungskraft in einer Kita. Darüber hinaus ist sie im Integrationsbeirat der Stadt Augsburg aktiv und leitet zusammen mit Frau Çakmak auch den Elternkurs „Integrationsbausteine“, der spezielle Inhalte für Familien mit Zuwanderungsgeschichte bietet.

Hamdiye Çakmak ist von dem großen Nutzen der Arbeit der Stadtteilmütter überzeugt. Sie sind über die Jahre zu einem festen Bestandteil der Augsburger Stadtgesellschaft geworden und werden in der Öffentlichkeit positiv wahrgenommen.

Der Weg zum Programm: Die Familiensprachen sind wertvoll

Angefangen hatte alles mit ihrer eigenen Geschichte: Bei ihren drei Kindern machte sich Hamdiye Çakmak Sorgen um die Mehrsprachigkeit. Sie folgte damals ihrem Gespür, „denn ich kannte damals nur eine einzelne Aussage von einem griechischen Wissenschaftler, der sagte, dass ich die Muttersprache mit meinen Kindern sprechen darf“. In den ersten drei Lebensjahren vor dem Kindergarten brachte sie ihren Kindern ausschließlich Türkisch bei: „Ich habe bewusst detailliert gesprochen und viele Wörter benutzt. Ich wollte nicht, dass meine Kinder Türkisch verlernen. Es ging mir nicht um die Sprache selbst, es ging mir um Ressourcen in der Familie, die da verloren gehen würden, um Identität und um Bindung.“ Bevor die Kinder in den Kindergarten kamen, sprach Hamdiye Çakmak mit ihren Kindern dann auch Deutsch: „Draußen haben wir Deutsch gesprochen, aber zuhause konsequent Türkisch.“  In der Kita verstanden die Kinder zwar alles, sprachen aber am Anfang nicht. „Ich habe bei jedem Kind gebibbert, dass es klappt.“ Hamdiye Çakmak stellte fest, dass ihre Kinder bald beide Sprachen fließend beherrschten. 

Sprache prägt Identität

Familiensprachen prägen die Identität jedes Menschen. Die Erstsprache ist oft die Herzenssprache, in der man Gefühle am besten ausdrückt. Kinder lernen darin, Bedürfnisse und Wünsche zu äußern und sich mithilfe der Sprache ein Bild von sich selbst zu machen. Eine gute Sprachbildung und Integration erreicht man nicht dadurch, dass zuhause mit den Kindern möglichst viel Deutsch gesprochen wird. Wichtig ist, dass jedes Kind die Familiensprache(n) gut beherrscht, es grammatikalische Strukturen kennt und einen reichen Wortschatz entwickelt. Dann kann die Erstsprache als Referenzmodell für andere Sprachen fungieren. Besonders in der frühen Kindheit lernt ein Kind mühelos weitere Sprachen. Für das Selbstwertgefühl eines Kindes ist es elementar, dass seine Sprache/n, Kultur und Herkunft anerkannt werden. Die persönliche Identität eines Kindes ist von Anfang an eng mit den Sprachen seiner Bezugspersonen und den kulturellen Normen und Werten, die durch diese Sprache vermittelt werden, verbunden. Indem Eltern die Sprache sprechen, die sie am besten beherrschen, fördern sie ihr Kind und erreichen eine gute Bindung zur Familie und Freuden.

Sie begann, andere Mütter ehrenamtlich zu unterstützen, half beim Deutsch lernen, erklärte die Werte der Kita und sprach mit den Erzieher*innen. „Aus heutiger Sicht habe ich damals interkulturelle Sensibilisierung gemacht“, sagt Hamdiye Çakmak. Schließlich gab sie „Mama lernt Deutsch“-Kurse und stellte schnell fest, dass es für eine gute Sprachförderung der Kinder nicht ausreicht, die Mütter beim Deutschlernen zu fördern: „Ich wollte da anfangen, was die Mütter können. Denn es wurde ihnen oft genug unterschwellig suggeriert, du bist nichts, weil du kein Deutsch kannst.“ Statt Mehrsprachigkeit als Makel zu sehen, vermittelte Hamdiye Çakmak den Frauen: „Ihr könnt so viel. Hängt Euch nicht an dem auf, was ihr nicht könnt.“ Ihr war klar, dass ein erfolgversprechendes Sprachförderkonzept für Kinder die Eltern miteinbeziehen muss. Und dass die Eltern mit den Kindern in der Sprache sprechen sollten, in der sie am kompetentesten sind – nämlich ihrer Mutter- bzw. Familiensprache. Hamdiye Çakmak stärkte die Mütter, zeigte ihnen wie sie Verantwortung für die Sprachentwicklung ihrer Kinder übernehmen und sich aktiv und selbstbewusst in der Kita, aber auch im Stadtteil einbringen können. „Die Mütter waren so begeistert, wenn sie selbst einen Arzttermin gemacht haben oder der Lehrerin geantwortet haben,“ erzählt Hamdiye Çakmak, „sie brauchten einfach Erfolgserlebnisse“.

Hamdiye Çakmak (rechts) und ihre Stadtteilmütter leisten wertvolle Arbeit (hier mit Marta Kneip, Assistenz der Projektleitung). | Foto: DKSB KV Augsburg

Alltagsintegrierte, mehrsprachige Bildung auf Augenhöhe

Hamdiye Çakmaks Engagement fiel auf, ihr Ansatz, alle Sprachen der Familien zu fördern, wurde von der Stadt unterstützt. Man suchte nach einem geeigneten Elternbildungs- und Sprachförderkonzept und bekam das „Rucksack-Programm“ (siehe Kasten) empfohlen. Rucksack fördert nicht nur die sprachliche Entwicklung der Kinder, sondern aktiviert auch die Potentiale von Migranteneltern. „Das Rucksack-Projekt passte genau zu mir. So wollte ich arbeiten – Sprachbildung in den Alltag integriert, mit Wertschätzung,“ berichtet Hamdiye Çakmak. 2006 übernahm der Kinderschutzbund die Trägerschaft für die Kurse, aus denen sich schließlich das Angebot der Stadtteilmütter entwickelte. 

Die Stadtteilmütter machen Sprache für die teilnehmenden Familien zu einem lebendigen Thema. Hamdiye Çakmak rät den Eltern: „Mein Tipp ist immer: Sorge dafür, dass dein Kind ein Sprachbad bekommt. Denn nur mit Freude lernen die Kinder.“ So kann es gelingen, dass der Familienalltag in der Sprache erschlossen wird, in der die Eltern kompetent sind. Darauf baut dann die deutsche Sprache auf. „Mehrsprachigkeit ist für mich ein Teil einer gesunden Bindung zu den Eltern,“ sagt Hamdiye Çakmak, „da geht es nicht um diese oder jene Sprache. Alle Sprachen sind gleich viel Wert. Keine Sprache darf zu einer Machtsprache werden, die andere ausschließt.“ Die Stadtteilmütter sensibilisieren für eine diversitätsbewusste Erziehung.

Programme Griffbereit und Rucksack KiTa

Die Programme Griffbereit und Rucksack KiTa stammen aus den Niederlanden und wurden durch die „Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien“ (RAA) in Nordrhein-Westfalen (NRW) weiterentwickelt. Die Stadtteilmütter in Augsburg nutzen Eltern-Kind-Materialien aus den beiden Programmen, die die Landesweiten Koordinierungsstellen (LaKo) in NRW steuern und begleiten.

griffbereit-rucksack.de

Den Eltern wird durch die Kurse der Wert ihrer Mehrsprachigkeit bewusst. „Unsere Kinder kommen mit der Anlage als Weltbürger auf die Welt, wir dürfen ihnen ihre Muttersprache nicht vorenthalten,“ sagt Hamdiye Çakmak. Das ist nicht nur eine Frage der Integration: Die Förderung der Mehrsprachigkeit ist eine Investition in die Bildung und die Zukunft der Kinder. 

Soziales Engagement mit Erfolg

„Die Arbeit bei den Stadtteilmüttern hat meinen Blick auf die Welt verändert“, sagt Reginalkoordinatorin Gabriela Eltayeb. | Foto: DKSB KV Augsburg

Bei den Stadtteilmüttern geht es um viel mehr als um die sprachliche Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund. „Wir lesen regelmäßig in den verschiedenen Sprachen der Welt Märchen vor, organisieren Seminare oder Sportfeste oder treffen uns in der Gruppe „Naturentdecker – Umweltbildung für Groß und Klein“, die in Kooperation mit dem Umweltbildungszentrum Augsburg angeboten wird. Dabei ist es egal, welche Sprache die Eltern und Kinder sprechen, welche Religion sie haben oder welcher Kultur sie angehören,“ berichtet Regionalkoordinatorin Gabriela Eltayeb. Auch Mütter ohne Deutschkenntnisse werden als Expertinnen für die Sprachentwicklung ihrer Kinder anerkannt. Und auch Eltern ohne Zuwanderungsgeschichte werden einbezogen. 

Das Programm ist ein riesiges Kontaktnetzwerk, in dem jeder Mensch so akzeptiert wird, wie er ist. „Die Arbeit bei den Stadtteilmüttern hat meinen Blick auf die Welt verändert,“ sagt Gabriela Eltayeb: „Hamdiye Çakmak hat so vielen Menschen ein Zuhause gegeben – oft über ihre eigenen Grenzen hinaus.“ 

Hamdiye Çakmak hat mit den Stadtteilmüttern noch viel vor: „Ich möchte gerne erreichen, dass wir besser aufgestellt sind. Die Arbeit, die wir leisten, ist so wertvoll. Der Kinderschutzbund mit seinen Koordinatorinnen macht so viel, damit das Programm steht. Aber die Stadtteilmütter brauchen eine bessere finanzielle Situation. Dann könnten wir noch mehr erreichen. Es wäre toll, wenn wir als Standort in Augsburg Multiplikator werden würden und andere Kinderschutzbünde in Bayern, die mit den Programmen Rucksack und Griffbereit arbeiten, bei der Umsetzung eigener Stadtteilmütter-Projekte beraten könnten.“

Jedes Kind ist anders

Jedes Kind lernt Sprachen auf seine Weise, unabhängig von der Anzahl der Sprachen. Wie gut ein Kind eine Sprache beherrscht, hängt von vielen Faktoren ab: dem Alter, in dem es die Sprache lernt, der Sprachkonstellation und dem Sprachgebrauch in der Familie, der Qualität und Quantität des Sprachangebots und der Eigenmotivation des Kindes.


Ausgabe 24-3

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