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Schwerpunkt

Partizipation von Anfang an

Kinder, die bereits in der Kita an der Gestaltung ihres Alltags beteiligt werden, lernen Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Sie finden heraus, was sie möchten, drücken dies aus und verhandeln darüber – damit beginnt ein demokratisches Verständnis der Welt. Im Kinder- und Familienzentrum Farbenland in Essen wird der Grundstein gelegt.

Jedes Jahr im Herbst ist es im Kinder- und Familienzentrum (KiFaz) Farbenland, einer Einrichtung des Essener Kinderschutzbundes, soweit: Herr Igel, Frau Eichhörnchen, Herr Kastanie und Frau Eichel treten gegeneinander an, um den Kindern das Prinzip demokratischer Mehrheitsentscheide zu erklären. Wie funktioniert eine Wahl? Wie wird entschieden, wer am Ende gewinnt? Durch die Tiere vermittelt lernen die Kinder den Ablauf einer demokratischen Wahl kennen. Sie erfahren, was ein Wahlzettel, eine Wahlkabine und eine Wahlurne sind. Durch das gemeinsame Auszählen von Nüssen, also der Stimmen, wird den Kindern verdeutlicht, wie es zu einem Wahlsieg kommt – und das mit ganz viel Spaß.

Das Wissen brauchen die Kinder unbedingt, denn in der Kita stehen die Wahlen des Kinderparlamentes an. Alle Kinder von drei bis sechs Jahren sind wahlberechtigt. Wer sich zur Wahl stellen möchte, füllt mit seinen Eltern zusammen einen Steckbrief mit Foto aus. Die Steckbriefe werden im Flur der Kita ausgehängt. Dort können sich die anderen Kinder über die Kandidat*innen informieren. „Die Kinder nehmen das sehr gut an“, sagt Jasmin Sell, ehemalige Leiterin des KiFaz Farbenland, die das Projekt von Beginn an begleitet hat: „auch eher stille Kinder wollen gerne ins Parlament. Sie merken, dass sie in einem kleinen geschützten Raum das sagen können, was sie möchten“. 

Ein Wahllokal muss her

Auch an der Vorbereitung und Gestaltung der Kinderparlamentswahl wirken die Kinder mit: Bis zur letzten Minute wird fleißig geschnitten, geklebt und gepinselt, bis Wahlurne, Wahlkabine, Wegweiser und Wahlhelferwesten fertig sind. 

Das Kinderparlament setzt sich aus acht Mitgliedern zusammen – vier Vorschulkinder, die fünf oder sechs Jahre alt sind, werden gewählt und vier Kinder, die drei oder vier Jahre alt sind. Viele Kinder lassen sich als Kandidaten aufstellen. „Dabei erlernen die Kinder auch einen Umgang mit Frustrationstoleranz, da nicht alle Kandidat*innen gewählt werden können“, sagt Jasmin Sell. Um den Mut und den Einsatz der Kinder, die nicht gewählt werden, zu belohnen, werden diese Kinder nach der Wahl als „Gastkinder“ zu einzelnen Kinderparlamentssitzungen eingeladen.

Das Kinderparlament im KiFaz Farbenland tagt einmal in der Woche nach den Morgenkreisen für 30 Minuten. Die Themen und Forderungen werden von allen Mitgliedern bestimmt: Es geht zum Beispiel darum, über die Anschaffung neuer Schleichtiere zu diskutieren, den Speiseplan mitzubestimmen, zu erreichen, dass die Straße vor der Kita verkehrsberuhigt wird oder das Museum des Künstlers Piet Mondriaan in den Niederlanden zu besuchen. Die Kinder praktizieren altersgerecht Mitbestimmung und Teilhabe, sie lernen zu diskutieren, andere Meinungen zu respektieren und Kompromisse auszuhandeln. Durch Aushänge, selbst gestaltete Plakate und Berichte in den Morgenkreisen werden alle Kinder der Kita über die Ergebnisse der Parlamentssitzungen informiert.

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Demokratiebildung von klein auf

Demokratie und Partizipation im Alltag des KiFaz Farbenland gehört für Kinder, Eltern und Mitarbeiter*innen selbstverständlich dazu. Basis für die pädagogische Arbeit ist die UN-Kinderrechtskonvention. Das Recht auf aktive Teilhabe der Kinder hat die Einrichtung fest in ihrer Konzeption verankert. 

Angefangen hatte alles mit dem Versuch, ein Beschwerdemanagement für die Kinder einzuführen. Also wurde ein Beschwerdebriefkasten aufgehängt. „Da die Kinder aber noch nicht schreiben können, und sich auch nicht an Eltern und Fachkräfte wendeten, um sie um das Aufschreiben zu bitten, blieb der Briefkasten leer,“ erzählt Jasmin Sell. „Es musste also etwas anderes her. So kamen wir auf die Idee, ein Kinderparlament einzuführen.“ Ein per demokratischem Mehrheitsentscheid gewähltes Kinderparlament gibt es im KiFaz Farbenland seit 2019. Zudem wurde die Einrichtung im Jahr 2020 von der Karl Kübel Stiftung im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben! als „Leuchtturmzentrum der Demokratie“ in Nordrhein-Westfalen ausgewählt. „Wir sind zum einen als Beispiel für gut gelebte Demokratie in unserem Bundesland genommen worden, zum anderen war unsere Aufgabe, auch andere Kitas zu schulen,“ berichtet Jasmin Sell. 

Die Wahlen zum Kinderparlament wurden von Jahr zu Jahr professioneller. Der Termin wurde parallel zu den Wahlen des Elternrats gelegt. „Das hatte den Effekt, dass die Kinder zu ihren Eltern sagten: „Ich habe heute Morgen gewählt, Du musst das jetzt auch noch machen“, erzählt Jasmin Sell. 

Partizipation einzuführen, ist ein Prozess. Sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen müssen mitgenommen werden. Dafür bedarf es Zeit – und immer wieder Gespräche aller Beteiligten und entsprechende Anpassungen. Jasmin Sell beobachtet: „In vielen Kitas gibt es tolle Ideen zur Beteiligung, aber manchmal sind Kinder und Fachkräfte dann überfordert, weil sie sich zu viel in zu kurzer Zeit vorgenommen haben. Stattdessen sollte alles im Tempo der Kinder entwickelt werden.“ Auch im Team sollte Partizipation gelebt werden. Denn Fachkräfte haben oft eine andere Perspektive als zum Beispiel die Leitung. 

Kleine Situationen, große Wirkung

Ganz praktisch gibt es viele Situationen im Kita-Alltag, an denen Kinder mitbestimmen können. In den Morgenkreisen des KiFaz Farbenland wird demokratisch darüber entschieden, welche Spiele gespielt und welche Lieder gesungen werden. Danach darf jedes Kind bestimmen, in welchen Funktionsräumen es spielen möchte.

Jedes Mal, wenn die Kinder nach draußen gehen, überlegen sie: Ziehe ich eine Jacke an oder nicht? Im KiFaz Farbenland entscheiden das die Kinder selbst. Die Kinder sind viel mehr in Bewegung als die Erwachsenen und haben ein individuelles Kälteempfinden, genauso wie Erwachsene auch. Es ist wichtig selbst zu spüren, ob sie eine Jacke brauchen. Wenn Eltern ihr Kind bei niedrigen Temperaturen ohne Jacke im Garten abholen, sind Gespräche immer wieder notwendig. „Für die Fachkräfte ist es ein Balance-Akt den Kindern gerecht zu werden, aber auch für sie zu sorgen – zum Beispiel, damit sie nicht krank werden. Das lösen die Fachkräfte im Farbenland aber immer professionell“, sagt Jasmin Sell.

Wie erreicht man, dass die Kinder sich schon morgens auf das Mittagessen freuen? Ganz einfach: Indem das Essen, das sich ein bestimmtes Kind gewünscht hat, auch tatsächlich gekocht wird. Im KiFaz Farbenland dürfen alle Kinder Vorschläge für das Kinderwunschessen an einem Tag in der Woche machen. Dann wird abgestimmt. Dazu kleben die Kinder einen bunten Punkt auf das Bild des Essens, das sie am liebsten mögen. Wenn das Wunschessen gewinnt, schmeckt das besonders gut. 

Partizipation ist ein wichtiges Element der Demokratiebildung. Jedes Kind wird geschätzt, respektiert und erlebt Selbstwirksamkeit. „Ich habe festgestellt, dass die Kinder sich mehr zutrauen und mutiger sind in der freien Meinungsäußerung,“ sagt Jasmin Sell, „außerdem wird wertschätzender miteinander umgegangen“. Demokratische Teilhabe sollten Kinder von Anfang an erfahren – das KiFaz Farbenland ist dafür ein geeigneter Ort.

Jasmin Sell hat die Wahlen zum Kinderparlament jahrelang begleitet.
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Ausgabe 24-2

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