
Die Kindheit ist politisch
Eindeutig: Das derzeit heißeste politische Thema ist der zunehmende Erfolg von „rechtspopulistischen“ Parteien. Deren Markenkern ist allerdings nicht der Populismus allein (der findet sich bei anderen Parteien auch), sondern das dort ausgestellte autoritäre Denken – der sogenannte Autoritarismus. Was ist damit gemeint, und woher kommen diese Haltungen?
Unter Autoritarismus wird die Neigung von Menschen beschrieben, sich in eine Hierarchie von Führenden und Geführten einzugliedern, und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören – andere Ethnien etwa oder Angehörige anderer Religionen. Gleichzeitig wird Halt in einer festen Ordnung aus Konventionen und Regeln gesucht und die eigene moralische Überlegenheit herausgestellt. Ein solches Denken findet sich nicht nur in der politischen Arena (und dort sowohl auf der rechten wie auch auf der linken Seite), sondern auch in religiösen Gruppen und Sekten aller Art.
Das „Missing Link“
Als Erklärung für autoritäres Denken werden oft äußere Umstände angeführt. Etwa, dass Menschen wirtschaftlich in Not geraten, sozial absteigen, oder sich durch den raschen gesellschaftlichen Wandel fremd in der modernen Welt fühlen.
Dass diese Erklärungen nicht ausreichen, zeigt sich daran, dass etwa die AfD nicht weniger eine Mittelschichtspartei ist als die SPD oder auch die CDU. Auch unterscheiden sich die AfD-Anhänger weder im Bildungsniveau noch im Bezug von Transferleistungen von der Durchschnittsbevölkerung. Offenbar bleiben die rechten Ideen bei nach außen identischen Rahmenbedingungen bei manchen Menschen haften, bei anderen dagegen nicht.
Auch die politische Programmatik spricht nicht für eine rein „äußere“ Bedingtheit für autoritäre Haltungen. In ihrem Kern dreht sich die Agenda nämlich nicht um die Behebung real erlebter oder zu erwartender Missstände – etwa der Klimakatastrophe oder der immer krasseren sozialen Ungleichheit. Vielmehr geht es überraschend häufig um Kopftücher, den Islam, das „Abendland“, die Flüchtlinge, die „Lügenpresse“, die angeblich woken Grünen, um Frühsexualisierung, Geschlechtsidentität oder die Bedrohung durch Kriminalität oder auch Wölfe. Der Klimawandel wird als „natürliches Phänomen“ akzeptiert, abgeschafft werden sollen die Gendersternchen. Kurz: Es geht um Identität statt Realität.
Und da sind noch mehr offene Fragen: Woher kommt der absolute Markenkern aller autoritären Parteien, nämlich die Sehnsucht nach mächtigen, starken Männern? Wie zentral dieser Hang zur autoritären Unterwerfung ist, zeigt sich etwa im Putin-Kult auf der stramm rechten Seite oder in der Verehrung von Menschen wie Donald Trump.
Warum fühlen sich vor allem Männer von der rechten Programmatik angesprochen? Und warum grassiert Fremdenfeindlichkeit ausgerechnet dort am meisten, wo es am wenigsten Ausländer gibt?
Warum ist die Meinung, Spielball von Mächtigeren zu sein, also das eigene Leben nicht selbst bestimmen zu können, ausgerechnet bei den rechtspopulistisch Gesonnenen am weitaus stärksten ausgeprägt?
Erziehung, Werte und Gesinnung
Wo bildet sich dieses Muster, das nach Auskunft der Sozialpsychologen deutlich von Angst, Misstrauen, Unsicherheit und auch geringeren Empathiewerten unterlegt ist? Woran lesen Menschen ab, ob sie sich vor der Welt fürchten müssen oder ob sie vertrauen können? Wo erfahren wir, ob Wohlwollen und Kooperation geeignete „Lebensinstrumente“ sind – oder ob wir besser auf Konkurrenz, Strenge und Ausgrenzung setzen?
Diese Muster, hier sind wir bei einer zentralen Grundannahme der Entwicklungspsychologie, bilden sich dort, wo wir zum ersten Mal die Ordnung der Welt kennenlernen – in der Kindheit. Hier werden wir zum ersten Mal „regiert“ – und lesen daran ab, wie die uns Überlegenen mit Macht und Herrschaft umgehen. Ja, hier erleben wir überhaupt, worauf sich Beziehungen gründen: ob auf Vertrauen und Kooperation – oder auf Überlegenheit und Stärke. Und auch das erfahren wir in dieser Zeit: Ob die Welt ein Kampfplatz ist, oder eine Heimat. Ob sie trägt oder ob wir jederzeit verstoßen werden können. Ob wir eine Stimme haben oder „hörig“ sein müssen und uns deshalb besser einem „Führer“ unterwerfen.
Tatsächlich verhandeln wir in der Kindheit genau die Themen, um die sich die autoritäre Agenda mit ihrem „great again“ oder „take back control“ in ihrem Kern dreht – und das im ganz banalen Miteinander des Alltags: Bin ich okay? Schützen die Großen mich, wenn ich in Not bin? Oder lassen die mich allein? Kann ich mitgestalten oder muss ich immer tun, was andere mir vorgeben? Bin ich klein und den Mächtigeren ausgeliefert, oder erlebe ich Wert und „Größe“? Bin ich der Welt gewachsen, oder bin ich beständig überfordert und gestresst? An den Antworten, die Kinder auf diese Fragen bekommen, eicht sich der Kompass, mit dem sie die Welt gestalten werden. Zeigt er auf Vertrauen? Oder auf: Vorsicht, pass auf!? Sehe ich die Welt als gebenden Ort – oder als Kampfplatz? Kurz: Trage ich in mir das Grundgefühl einer „Heimat“ oder fühle ich mich heimatlos?
In meinem Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ sichte ich das dazu verfügbare empirische Material. Hier will ich nur zwei Zusammenhänge anführen: Wirft man ein grobes Raster über die Erde und lässt darauf die Diktaturen und Oligarchien aufleuchten, dann decken sich diese politischen Hotspots ziemlich genau mit einer anderen Landkarte – nämlich der von der UN und anderen Organisationen erstellten Landkarte widriger Kindheiten: Wo Kinder schlecht behandelt werden, hat der politische Autoritarismus leichtes Spiel. Eine noch eindrücklichere Landkarte liefern die USA: Ordnet man die Zustimmungsraten der Bürger zur körperlichen Züchtigung von Kindern in eine Rangfolge, so sind die 22 höchstplatzierten Bundesstaaten allesamt republikanisches Kernland: Strenge Vorstellungen von Erziehung münden in strenge Vorstellungen von Politik.
Und damit bin ich bei der Grundthese meiner Arbeit zum Rechtspopulismus: Menschen, die in ihrer Kindheit gute Antworten auf ihre Entwicklungsfragen bekommen, sind vor den Verlockungen des autoritären Denkens geschützt. Diejenigen, denen gute Antworten hartnäckig verweigert werden, werden dadurch auf eine lebenslange Suche nach Ersatz geschickt: Die Sicherung, die sie innerlich nicht erfahren haben, suchen sie dann im Äußeren: make me great again! Sie sind verletzlich. Auch gegenüber den Verheißungen des Rechtspopulismus.
Für mich ist die Antwort auf die rechtspopulistischen Verlockungen deshalb vor allem: Wir müssen alles tun, um die Kindheiten zu stärken. In den Familien und in den Einrichtungen. Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit – das sollte dort immer wieder neu geschaffen und verteidigt werden. Denn aus diesem „Kleeblatt“ bildet sich eine innere Heimat – wer sie hat, wird sie nicht bei politischen Verführern suchen müssen.
Herbert Renz-Polster, Erziehungsexperte und Kinderarzt